Flucht vor Einberufung: Russische Deserteure in Deutschland
Kurz nachdem der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede am 21. September eine Teilmobilmachung angeordnet hatte, bildeten sich an den Grenzen große Schlangen ausreisewilliger Russen. Wie viele es genau waren, ist unklar, berichtet wird aber von Hunderttausenden Menschen, die vor der Einberufung zum Krieg in der Ukraine flüchteten. Für einige von ihnen ist Deutschland zum Ziel geworden. Die DW konnte sowohl mit Personen sprechen, die es nach Deutschland geschafft haben, als auch mit Freiwilligen, die den Geflüchteten helfen.
Ilja: „Ich wollte nicht mit meinen Schicksal spielen“
Ilja lebte in Jekaterinburg und war im Autohandel tätig. Am 21. September hatte er bei seiner Arbeit die Rede des Präsidenten verfolgt. „Danach habe ich sofort meine Sachen gepackt und gekündigt, weil ich zu denen gehöre, die normal als erste einberufen werden. Ich bin Scharfschütze, Kommandant eines Kampffahrzeugs und Richtschütze eines Granatwerfers. Außerdem bin ich verpflichtet, mich innerhalb von 38 Stunden nach Anordnung einer Mobilmachung selbst zu melden. Mir war klar, was es bedeutet, in Russland zu leben. Ich wollte nicht mit meinem Schicksal spielen.“
Ilja ist ausgebildeter Kernphysiker, doch er entschied sich, nach dem Universitätsabschluss in die russische Armee einzutreten und seinen Militärdienst zu leisten. „Ich dachte, die Armee ist etwas Mächtiges, Starkes, Tolles, doch ich traf dort auf völliges Chaos. In der Armee wurde mir vieles klar, auch über unsere Politik“, sagt er. All seine Einsatzbereiche existierten quasi nur auf dem Papier, in der Armee sei ihm nichts beigebracht worden. Als Soldat, sagt Ilja, wäre er jetzt absolut nutzlos.
Von der Arbeit fuhr Ilja zu seiner Datscha, um nicht nach Hause zurückzukehren, wo er gemeldet ist. Von dort rief er seine Freundin an. Sie half ihm, zwei andere Männer zu finden, mit denen er zusammen nach Kasachstan fahren konnte. Bereits am Abend des 22. September verließen die Männer die Oblast Swerdlowsk im Ural und waren am frühen Morgen an der Grenze. „Es gab bereits einen riesigen Stau. Wir haben mit Leuten in der Schlange gesprochen. Alle haben sich gegenseitig unterstützt“, erinnert sich Ilja. Gegen Mittag überquerten sie die Grenze. „Der kasachische Beamte fragte mit einem Grinsen, wo wir hinwollten. Wir hatten uns vorher eine Geschichte ausgedacht: Wir würden in die Berge fahren, um den Schnee zu sehen. Der Grenzwächter fing an zu lachen und wir lachten auch“, erzählt Ilja.
Die drei Männer verbrachten noch einige Tage in Kasachstan. Dann flog Ilja nach Köln, wo er einen Asylantrag stellte. „Ich war schon zweimal in Deutschland. Ich mag die Mentalität der Deutschen, ihren ruhigen Lebensstil und ihre Freundlichkeit. Wenn ich in Deutschland bleiben und arbeiten oder studieren kann, werde ich Deutsch lernen. Ich möchte sehr gerne bleiben“, betont Ilja.
Olga: „Ich möchte mit der Politik des Staates nichts zu tun haben“
Olga floh am 26. September aus Russland nach Deutschland. Auch sie wollte keine Einberufung abwarten. Sie arbeitete als Epidemiologin in Moskau und hatte sich nach dem Uniabschluss im Jahr 2020 beim Einberufungsamt gemeldet, denn Ärzte bestimmter Fachgebiete sind in Russland wehrpflichtig. „Ich habe mich aber entschieden, den Wehrpass nicht abzuholen – für den Fall, dass es plötzlich Krieg gibt“, erklärt sie. „Ich weiß aus der COVID-Zeit, wie unser Staat mit seinen Bürgern umgeht – vor allem mit Ärzten. Ich war damals schwanger. Noch vor unserem Abschluss an der Universität wurden wir unter der Androhung, ansonsten keine Diplome zu bekommen, dazu gedrängt, kostenlos in COVID-Kliniken zu arbeiten“.
Olga wurde in Rostow am Don im Süden Russlands geboren. Ihre Mutter stammt aus dem ukrainischen Mariupol, das gerade unter russischer Kontrolle ist. Ihr Vater ist Russe, der über 30 Jahre Erfahrung im Militär verfügt. Aufgrund seines Alters droht ihm aber keine Einberufung mehr. „Er unterstützt diesen Krieg“, bedauert Olga. Schuld daran seien 20 Jahre Propaganda. Alle, die bei Polizei und Militär seien, würden daher „in einer eigenen Welt leben“. „Mit Kriegsbeginn spaltete sich unsere Familie. Fast alle meine Verwandten auf mütterlicher Seite sind betroffen, ihre Wohnungen wurden zerstört“, so Olga.
Am 24. Februar schrieb sie einen Beitrag auf Instagram, in dem sie sich gegen den Krieg aussprach. Nach nur 40 Minuten erhielt ihr Ex-Mann einen Anruf vom Sicherheitsdienst seines Unternehmens und eine Stunde später wurde auch Olgas Vater über ihren Beitrag informiert. „Beide wurden aufgefordert zu schweigen, wenn sie Probleme bis hin zur Kündigung vermeiden wollten“, sagt Olga. Sie gibt zu, dass sie schon im März über eine Ausreise nachgedacht habe, viele persönliche Probleme sie jedoch davon abgehalten hätten.
Doch am 21. September wurde Olga klar, dass sie sofort ausreisen muss. „Einberufungen bekamen sogar Ärzte, die gar nicht hätten mobilisiert werden sollen“, so Olga. Drei Tage später packte sie ihre Koffer und fuhr von Moskau zunächst nach St. Petersburg. Von dort nahm sie am nächsten Tag einen Bus zur finnischen Grenze. „Es waren viele Männer im Bus, fast alle wegen der Mobilmachung“, erinnert sich Olga. Von Finnland flog sie nach Stockholm und von dort dank eines gültigen Visums nach Berlin, wo sie von Verwandten abgeholt wurde.
Auf die Frage, warum sie Russland verlassen hat, sagt Olga offen: „Ich möchte nicht, dass die Menschen leiden. Ich möchte nicht, dass sich Familien trennen. Ich habe Verwandte in der Ukraine, die ich aufgrund der politischen Lage seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. Wie soll ich dorthin in den Krieg ziehen? Wenn ich meine Meinung äußere, komme ich wegen Diskreditierung oder Extremismus ins Gefängnis. Ich möchte mit der Politik des Staates nichts zu tun haben, die die Menschen in die Enge treibt.“ In Deutschland will Olga, die Deutsch spricht, schnell Arbeit finden, was aber aufgrund ihres Visums derzeit nicht geht. „Ich schäme mich, Asyl zu beantragen und von Sozialhilfe zu leben“, sagt sie und bedauert, dass ihr bisher keine Behörde habe helfen können: „Mein Visum läuft ab und das ist ein Problem.“
Artjom: „Jeder ist bereit, dem anderen zu helfen“
Artjom arbeitet ehrenamtlich in einer deutschen Agentur, die bei der Vorbereitung von Unterlagen für ein Studium oder eine Arbeitssuche in Deutschland behilflich ist. Am 24. Februar beschloss das Team, Ukrainer kostenlos zu beraten. Und seit Putins Mobilmachung wird auch denjenigen geholfen, denen in Russland eine Einberufung droht.
Seit dem 21. September hat Artjom Dutzende Russen beraten. „Anfangs haben wir 16 Stunden am Tag gearbeitet, manchmal sogar mehr. Wir haben uns die Geschichten von Menschen angehört, die an den Grenzen standen und erzählt haben, welche Hölle da los war“, erzählt Artjom. „Das Durchschnittsalter liegt bei 28,5 Jahren. Der jüngste war 17, der älteste 54“, so Artjom. Er sagt, dass etwa die Hälfte Ärzte seien. Ihm zufolge werden in Russland Ärzte unabhängig von ihrem Fachgebiet einfach einberufen.
„In Deutschland gilt ein Moratorium, was die Abschiebung nach Russland angeht, das heißt, wenn eine Person hierher kommt und politisches Asyl beantragt, wird sie nicht abgeschoben“, erläutert Artjom und fügt hinzu: „Wer in Deutschland politisches Asyl beantragen möchte, muss entweder mit einem Visum einreisen und hier Asyl beantragen, oder, falls kein Visum vorhanden ist, ein Flugticket mit Umstieg in Deutschland buchen.“ Artjom empfiehlt, den Flughafen Frankfurt am Main zu nehmen, wo die Transitzone rund um die Uhr geöffnet ist. „Eine Person kann beim Umstieg einem Polizisten sagen, sie wolle politisches Asyl beantragen. Aus Deutschland kann man dann nur in ein anderes Land weitergeschickt werden, wenn dieses der Person ein Visum ausgestellt hat und somit für sie zuständig ist“, erklärt Artjom.
Inzwischen würden aber weniger Menschen Rat suchen, daher findet Artjom: „Russen, die vor der Mobilmachung aus Russland fliehen, die nicht töten wollen und die nicht getötet werden wollen, sollte die Einreise gestatten werden, und zwar nur mit einem russischen Personalausweis, ohne Visum und Reisepass. Man sollte die Menschen einfach ins Flugzeug steigen lassen. Jeder ist bereit, dem anderen zu helfen, man muss die Leute nur hereinlassen.“