Deutschland nach dem Zusammenbruch der Regierung im politischen Stillstand? Nicht ganz. Mit den Parteien der alten Koalitionsregierung aus SPD, Grünen und FDP, der Unterstützung der Unionsparteien CDU/CSU und der Gruppe Die Linke hat der Bundestag ein wichtiges Gesetz verabschiedet. Die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit kam zustande.
Das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, soll gestärkt werden. Das Grundgesetz, die Verfassung, wird entsprechend geändert. Es sei ein Gesetz gegen die „Erzfeinde der Demokratie“, erklärte SPD-Innenministerin Nancy Faeser im Bundestag. Sie sagte es zwar nicht, aber gemeint war vor allem die Partei AfD. Sie liegt derzeit in Umfragen um die 18 Prozentpunkte und wird vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet.
Auch die systematische Entmachtung von Verfassungsgerichten im Ausland – wie zum Beispiel in Polen oder Ungarn – hatte die deutschen Politiker beunruhigt und zum Handeln bewegt. Wenn Autokraten an die Macht kämen, machten sich diese meist gleich daran, den Rechtsstaat zu „entkernen“, sagte Innenministerin Faeser. Justizminister Volker Wissing sagte in Bezug auf die Stellung von Verfassungsgerichten: „Schnell werden sie zur Zielscheibe der Politik, wenn kritische Richter unliebsame Urteile sprechen.“
Bundesverfassungsgericht als Grundpfeiler der Demokratie
Das Bundesverfassungsgericht wurde 1951 gegründet. Das höchste deutsche Gericht hat seinen Sitz in Karlsruhe. Es ist in jeder Hinsicht unabhängig, hat immer wieder politische Entscheidungen zu Fall gebracht. Teile seiner Struktur und Aufgaben sind im Grundgesetz festgelegt. Doch vieles war bislang nicht eindeutig in der Verfassung geregelt. Befürchtet wurde, dass extreme Parteien in Zukunft versuchen könnten, politisch Einfluss auf das Gericht zu nehmen. Mit einer einfachen Mehrheit im Parlament könnten sie das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern und so womöglich grundlegende Strukturen abschaffen oder umbauen. Dem ist nun ein Riegel vorgeschoben.
Die Reform – wie das Grundgesetz geändert werden soll
Die Aufteilung des Gerichts in zwei Senate von je acht Richterinnen und Richtern soll zukünftig im Grundgesetz verankert werden. Ebenfalls festgeschrieben werden soll die maximale Amtszeit der Richter und eine Altersgrenze von 68 Jahren. Mit der Verankerung im Grundgesetz können die Strukturen des Gerichts nicht wie bisher mit einer einfachen Mehrheit im Bundestag geändert werden. Künftig ginge das nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat.
Bundeshaushalt mit 60-Milliarden-Lücke
Auch die Richterwahl soll reformiert werden: Bereits im Grundgesetz festgelegt ist, dass die Richterinnen und Richter je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden. Hier soll eine sogenannte Öffnungsklausel eingefügt werden: Wenn es eines der Parlamente nicht schafft, eine vakante Richterstelle rechtzeitig neu zu besetzen, soll das jeweils andere Organ – also Bundestag- oder Rat – das Wahlrecht ausüben können. So soll ausgeschlossen werden, dass in Teilen extremistische Parteien wie die AfD bei komplizierten Mehrheitsverhältnissen im Parlament Entscheidungen dauerhaft blockieren können.
Negativbeispiele Polen und Ungarn
Beispiel Polen. Die von 2015 bis 2023 regierende nationalkonservative PiS-Regierung hatte nach ihrem Amtsantritt aufgrund ihrer absoluten Mehrheit im polnischen Parlament, Sejm, das Justizwesen umgebaut. Ein erster Schritt war die Nichtanerkennung dreier vor ihrer Machtübernahme ernannter Verfassungsrichter und die Besetzung der Posten mit eigenen Kandidaten.
Das löste Massenproteste aus. Trotzdem schuf die PiS-Regierung 2019 auch eine neue Kammer des Verfassungsgerichts, die sogenannte Disziplinarkammer. Zudem änderte die Regierung das Gesetz so, dass sie den Präsidenten des Verfassungsgerichts ernennen und entlassen konnte. Der Europäische Gerichtshof urteilte 2019, dass die Reform europäischem Recht widerspreche und die Unabhängigkeit der Justiz untergrabe. Ähnlich war es in Ungarn. Reformen der Fidesz-Partei 2013 wurden international kritisiert, sie schwächten die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Justiz.
Auch Anwaltverein fordert mehr Schutz für Justiz
Ulrich Karpenstein, Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins und ein führender deutscher Verfassungsrechtler, begrüßte vor einigen Wochen die geplanten Gesetzesänderungen. Er schrieb der DW: „Wichtig ist, dass künftige Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und insbesondere die Quoren für Richterwahlen und Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen nicht länger mit einer einfachen Mehrheit des Bundestages abgeändert werden können“, urteilt Karpenstein.
Innenministerin Faeser streicht im Bundestag noch eine Besonderheit heraus. Die Änderung des Grundgesetzes und Stärkung des Gerichts komme genau im 75. Jubiläumsjahr des Bestehens der Verfassung; also des Grundgesetzes. Dieses habe für viele Länder auf der ganzen Welt eine besondere „Vorbildfunktion“. Der Rechtsstaat sei eine „Bastion der Demokratie“. Den vorgesehen Änderungen des Grundgesetzes muss nun der Bundesrat noch zustimmen. Das wird voraussichtlich schon sehr bald passieren.