Eisenbahnunglück in Griechenland: Eine Katastrophe mit Ansage
Ist der Bahnhofsvorsteher in der griechischen Stadt Larisa nur ein Bauernopfer? Oder trägt er tatsächlich die Verantwortung für das schwere Zugunglück, bei dem in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (28.2./1.3.2023) Dutzende Reisende ums Leben gekommen sind und zahlreiche verletzt wurden? Der 59-Jährige war gleich nach dem Unglück festgenommen und wegen fahrlässigem Totschlags angeklagt worden. Medienberichten zufolge hatte er gestanden, einen Fehler gemacht zu haben und den Personenzug auf das falsche Gleis geschickt zu haben, so dass dieser auf offener Strecke mit einem Güterzug zusammenstieß.
Der verheerende Unfall hat ganz Griechenland in Schock versetzt. Mit einem derartig schweren Unglück hatte niemand gerechnet. Die Fahrgäste der Hellenic Train sind auf Verspätungen, auf Ersatzverkehr mit Bussen und manchmal sogar auf kleinere Entgleisungen eingestellt, nicht aber auf eine solche Katastrophe. Und doch war das Unglück eigentlich vorhersehbar, denn der Zustand des Schienenverkehrs in Griechenland ist dürftig.
Mit Ausnahme der Verbindung zwischen Athen und Thessaloniki und der S-Bahn im Großraum Athen existiert praktisch kein moderner Bahnverkehr in Griechenland. Charilaos Trikoupis war der letzte Regierungschef, der sich für die Eisenbahn in Griechenland interessierte, so glauben manche. Er regierte von 1875 bis 1895.
Im Moment gibt es zwischen den zwei Großstädten des Landes, Athen und Thessaloniki, sieben Zugverbindungen pro Tag. Die schnellste Zug braucht vier Stunden; mit dem Auto legt man die Strecke in fünf Stunden zurück. Nach 19.30 Uhr gibt es keine Verbindung mehr, die Alternativen für die Fahrgäste sind dann nur Flugzeuge oder Busse.
Für die Menschen, die weder in Athen noch in Thessaloniki wohnen und andere Reisepläne haben, ist die Bahn gar keine Option. Entweder, weil nie Gleise verlegt wurden, wie zum Beispiel auf der Mittelmeerinsel Kreta, oder weil existierende Gleise stillgelegt wurden, wie auf der Halbinsel Peloponnes. Wo es Zugverbindungen gibt, dauert die Bahnfahrt so lange, dass sie sich nicht lohnt. Von Thessaloniki in die 120 Kilometer entfernte Stadt Drama z.B. braucht man mit dem Bus zwei Stunden, mit dem Zug vier. Und diese Strecke wird mit der Bahn nur einmal pro Tag befahren.
Die Bahn war nie eine Priorität
Seit der Regierungszeit von Ministerpräsident und Bahnförderer Trikoupis sind Investitionen in die Eisenbahn-Infrastruktur keine Priorität mehr für die griechischen Regierungen. Stattdessen werden Autobahnen gebaut. Die Lobby der privaten Bus-Genossenschaften (KTEL), die Straßenbauunternehmer und die Autoimporteure – in Griechenland werden nicht einmal Mopeds produziert – haben sich durchgesetzt.
Sogar die größte und modernste Brücke Griechenlands, die den Golf von Korinth überspannt und Rio auf der Peloponnes mit Antirrio in Zentralgriechenland verbindet, wurde nur für Autos gebaut. Sie wurde im Jahr 2004 fertiggestellt – also in einem Jahr, in dem längst weltweit über die Auswirkungen des Klimawandels diskutiert wurde.
Keine Verbindung zum Ausland
Im 21. Jahrhundert hat Griechenland keine einzige Bahnverbindung mehr zu seinen Nachbarländern. Der legendäre Akropolis-Express, der seit den 1960er-Jahren die Strecke Athen-München befuhr, wurde mit Beginn der Jugoslawien-Kriege 1991 eingestellt. Selbst die nordmazedonische Hauptstadt Skopje ist nicht mehr per Bahn erreichbar. Seit 2011 existieren auch keine Verbindungen mehr von Thessaloniki nach Istanbul. Die Fahrten dauerten ewig, irgendwann blieben dann die Fahrgäste weg.
Zum Mangel an Investitionen kam die Korruption. OSE, wie die griechische Bahn vor der Privatisierung hieß, war ein Paradebeispiel für Misswirtschaft und für Masseneinstellungen auf Grundlage des richtigen Parteibuchs. Anfang der 2000er Jahre hatte die OSE noch 12.500 Mitarbeiter, heute sind etwa 2000 Personen im Netz- und Zugbetrieb beschäftigt. Damals waren es zu viele, heute sind es zu wenige, um den geordneten und sicheren Bahnbetrieb zu gewährleisten.
Das Diktat der Gläubiger: Privatisierung
Bis zum Beginn der Schuldenkrise im Jahr 2010 wurde die griechische Bahn nicht kaputtgespart. Das öffentliche Geld aber lief in ein Fass ohne Boden. Doch dann kam die große Finanzkrise: Griechenland war pleite und drohte, aus dem Euro zu fliegen. Eine Troika aus internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Union (EU) und Europäischer Zentralbank (EZB) erlegte dem Land ein hartes Sparprogramm auf. Im Gegenzug für drei Rettungspakete musste Griechenland „seine Hausaufgaben machen“, wie der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble verlangte.
Unter anderem musste das hochverschuldete Land seine Infrastruktur verkaufen. Energie, Telekommunikation, Häfen, Flughäfen und natürlich die OSE wurden privatisiert. Die griechische Eisenbahn wurde 2013 in einem ersten Schritt in einen Entwicklungsfonds ausgegliedert. 2017 wurde der Zugbetrieb an die staatliche Eisenbahngesellschaft Italiens, Ferrovie dello Stato Italiane, verkauft – für nur 45 Millionen Euro. Einige Luxus-Villen auf der Insel Mykonos kosten mehr.
Die Epoche von Hellenic Train
Die Italiener nannten den Betrieb Hellenic Train und investierten nur sehr mäßig. In fünf Jahren bauten sie fünf alte Hochgeschwindigkeitszüge aus der Schweiz um und renovierten ein Zugdepot in Thessaloniki. Im Jahr 2021 erzielte Hellenic Train immerhin einen kleinen Gewinn von 60.000 Euro. Für den Gleis- und Signalbetrieb ist immer noch der griechische Staat zuständig, aber auch da wurde nicht viel investiert. Die Gewerkschaften warnten immer wieder vor Sicherheitsmängeln, sie appellierten sowohl an das Bahnunternehmen als auch an die Regierung. Ohne Erfolg.
Im April 2022 warf der Chef des European Traffic Control System (ETCS) in Griechenland, Christos Katsioulis, wegen gravierender Mängel seinen Job hin. Das ETCS ist ein Sicherheitssystem, das in den Triebwagen installiert wird und vor menschlichem Versagen schützen soll. In seinem Rücktrittsschreiben warnte Katsioulis vor hohen Sicherheitsrisiken – ohne Resultat. Im November 2022 beschwerte sich die Gewerkschaft des Eisenbahnpersonals darüber, dass das ETCS zwar in den Lokomotiven installiert, aber nicht funktionsfähig sei.
Kostas Jenedounias, der Chef der Lokführergewerkschaft, klagte am Morgen nach dem schweren Zugunglück, dass „alles manuell“ gemacht werde. Selbst auf der wichtigen Strecke zwischen Athen und Thessaloniki, auf der nun auch das Unglück passierte. Ohne funktionierende Lichtsignale sei eine sichere Steuerung des Systems unmöglich, sagte er vor Fernsehkameras. Anscheinend war es nur eine Frage der Zeit, wann eine Katastrophe passieren würde.