Schweden, Finnland, NATO – und die Türkei
Die Pressekonferenz des schwedischen Chefunterhändlers für die NATO-Mitgliedschaft, Oscar Stenström, wurde kurzfristig einberufen. Im NATO-Hauptquartier in Brüssel schoben Mitarbeiter hastig zwei Tische zusammen. Vor allem Vertreter schwedischer Medien versammelten sich, um zu hören, ob Fortschritte gemacht wurden, nachdem die Türkei am Donnerstag ihre Gespräche mit Schweden und Finnland wiederaufgenommen hatte.
Stenström bezeichnete es als „gutes Zeichen“, dass die Türkei anerkenne, dass Schweden und Finnland konkrete Schritte unternommen haben, um auf Ankaras Bedenken einzugehen und betonte, dass die Gespräche fortgesetzt würden. Nicht nur in Brüssel, auch in der schwedischen Hauptstadt Stockholm, ist man jedoch zunehmend frustriert darüber, dass die Türkei die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands im Verteidigungsbündnis blockiert.
Sollte die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan ihre Blockadehaltung fortsetzen, „schadet dass der Einheit der NATO und wir haben ein echtes Problem“, sagt Anna Wieslander, Direktorin für Nordeuropa beim Atlantic Council, im Gespräch mit der DW. Es sei eine Sache, wenn Verhandlungen Stunden oder Tage dauerten, „aber wenn sie sich so lange hinziehen, untergräbt das die Sicherheit des gesamten Bündnisses und lässt es schwächer erscheinen“. Ihre offiziellen Beitrittsgesuche an die NATO stellten sowohl Schweden als auch Finnland bereits am 17. Mai 2022.
Bündnispartner von der Türkei enttäuscht
Schon seit Monaten widersetzt sich die türkische Regierung unter Erdogan den Aufforderungen der Vereinigten Staaten und anderer Bündnispartner, die Mitgliedschaft der nordischen Staaten zu ratifizieren. Manche machen für die mangelnde Bereitschaft der Türkei, ihre Einwände fallenzulassen, Erdogans Wunsch verantwortlich, im Vorfeld einer schwierigen Wiederwahl seine Wähler zu mobilisieren. In jedem Fall aber verwandelt sie das Versprechen einer beschleunigten Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands in leere Worte. Beide Länder werden ohne Zeitplan in der Schwebe gehalten.
Allein die Wiederaufnahme der Gespräche sei „wichtig, nach einer langen Phase ohne Gespräche“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor dem Treffen am Donnerstag gegenüber der DW und fügte hinzu, dass er zuversichtlich sei, dass Schweden und Finnland der NATO letztendlich beitreten würden.
Regierungsvertreter in Stockholm weisen jedoch darauf hin, dass Schweden nicht viel mehr anbieten könne, um die Türkei zu überzeugen. Zwischen Finnland und der Türkei gibt es weniger Probleme, doch Finnland scheint sich nun in einer Zwickmühle zwischen der Türkei und Schweden zu befinden. Seine Verhandlungsführer geben sich dieser Tage ungewöhnlich schweigsam.
Was fordert Ankara?
„Unter gewöhnlichen Umständen sind sowohl Finnland als auch Schweden Länder, zu denen die Türkei traditionell gute Beziehungen unterhält“, sagt Alper Coskun, früher türkischer Diplomat und heute Senior Fellow am US-amerikanischen Think Tank Carnegie Endowment for International Peace. Er weist jedoch auf Probleme hin, die die Türkei mit Schweden hatte, insbesondere auf Probleme, die die Türkei bereits mit Schweden ansprach, bevor sich das Land offiziell um eine NATO-Mitgliedschaft bewarb.
Die Regierung in Ankara beunruhigt die in ihren Augen langjährige Unterstützung Schwedens für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), eine Organisation, die auch nicht-militärische Ziele angegriffen und Zivilisten in der Türkei getötet hat. Die USA und die Europäische Union stufen die Organisation als terroristisch ein.
Wie reagiert Schweden?
Schweden weist diese Anschuldigungen von sich. Doch in einem im vergangenen Juli unterzeichneten trilateralen Memorandum verpflichtete sich das Land, „Aktivitäten der PKK und aller anderen terroristischen Vereinigungen, sowie Aktivitäten von Einzelpersonen in ihnen angeschlossenen und von ihnen inspirierten Gruppen oder Netzwerken zu verhindern“. Seitdem hat die schwedische Regierung Änderungen an ihrem Nachrichtendienst und einiger Bestimmungen ihrer Verfassung vorgenommen. Das Parlament wird außerdem über ein neues Anti-Terror-Gesetz abstimmen. Die Unterstützung oder Finanzierung terroristischer Vereinigungen kann dann mit bis zu vier Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Doch all das scheint die Türkei nicht zufriedenzustellen. Wenn es um Terrorismus geht, fühlt sich die türkische Regierung von ihren Partnern und Verbündeten missverstanden. Und das hat großen Einfluss darauf, wie die Türkei innerhalb der NATO agiert, erläutert Ex-Diplomat Coskun.
„Ob es nun zutrifft oder nicht, in der Türkei ist man überzeugt, dass der Terrorismus, insbesondere der Terrorismus der PKK, das Land in seiner Existenz bedroht“, führt Coskun aus. Die Türkei habe dieses Problem mit Ländern in ganz Europa angesprochen und Schweden sei eines der Länder, „die dieser Bedrohungswahrnehmung in den Augen der Türkei nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenken – oder geschenkt haben“.
Die Rolle der Türkei im Bündnis
Für einige westliche Diplomaten ist Ankara zu einem schwer durchschaubaren, unzuverlässigen Partner geworden, dessen Präsident häufig als Quertreiber wahrgenommen wird. 2009 hatte er versucht, die Ernennung eines neuen NATO-Vorsitzenden aus Dänemark zu verhindern, weil das Land zu nachsichtig auf Cartoons des Propheten Mohammeds reagiert habe und kurdische Rebellen unterstütze. Einige Jahre später zögerte Erdogan die Umsetzung eines NATO-Verteidigungsplans für Polen und die baltischen Staaten um Monate hinaus, weil er vom Bündnis forderte, syrisch-kurdische Kämpfer als Terroristen einzustufen.
Die Einwände Erdogans gegen eine Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands haben nun erneut Fragen laut werden lassen, ob das Bündnis nicht ohne die Türkei besser gestellt wäre. Kritiker sind überzeugt, dass die Regierung Erdogan nicht nur die Standards der NATO für eine demokratische Regierungsführung untergräbt, sondern seine zeitweilig sehr vertrauten Beziehungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auch die Interessen der NATO gefährden.
Kann die NATO Mitglieder ausschließen?
„Die NATO verfügt sehr bewusst über keine Ausschlussklausel“, sagt Wieslander vom Atlantic Council. Eine solche Klausel „war im Gespräch, als der Nordatlantikvertrag ausgehandelt wurde, doch sie wurde zurückgezogen, weil einige der europäischen Verbündeten dagegen waren“, erläutert sie. Wieslander hält den Ausschluss der Türkei ohnehin nicht für eine realistische Option, insbesondere nicht in Zeiten, in denen in Europa ein Krieg wütet. „Es ist besser, sie im Bündnis zu haben“, ist sie überzeugt.
Mit der zweitgrößten Armee innerhalb der NATO, einer fortschrittlichen Industrie und einer entscheidenden geografischen Lage an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien ist die Türkei eindeutig ein Faktor, der nicht zu unterschätzen ist. Doch „es ist wichtig, dass die USA und andere große Bündnispartner alles in ihrer Macht stehende tun, um auf die Türkei einzuwirken“, meint Wieslander.
Sie weist darauf hin, dass die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands nicht nur in puncto Verteidigung und Abschreckung angesichts der neuen russischen Bedrohung entscheidend für die Sicherheit der NATO ist, sondern auch angesichts des neuen langfristigen strategischen Wettstreits mit China. „Dies ist wirklich der Zeitpunkt, an dem alle den Mund aufmachen und sagen müssen: So kann die Türkei nicht weitermachen“, betont Wieslander.
Keine Entscheidungen bis zu den Parlamentswahlen
Coskun ist sicher, dass die Türkei ihren Widerstand gegen einen Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO schließlich aufgeben wird. Doch er erwartet keine Entscheidung vor den in der Türkei für Mitte Mai angesetzten Parlamentswahlen.
„Es läge im Interesse der Türkei, kein negatives Vermächtnis zu hinterlassen, weder bei Finnland noch bei Schweden oder bei der Allianz insgesamt, angesichts der Wahrnehmungen, die hierdurch ausgelöst werden“, meint Coskun. Doch die Türkei sei ein kompliziertes Land, fügt er hinzu: „Die Kristallkugel wird sehr, sehr trüb, wenn man hineinblickt.“