Serbien in Aufruhr: Protest und Gegenprotest nach Amokläufen
„Wir marschieren zehn bis zwölf Stunden täglich, machen lediglich kurze Erholungspausen“, sagt Sladjan. Zusammen mit einem Dutzend junger Serben aus dem Süden Kosovos zieht er schon seit mehr als einer Woche in Richtung Belgrad, der Hauptstadt Serbiens.
Der rund 400 Kilometer lange Fußmarsch soll sie zur großen Kundgebung des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic bringen, die an diesem Freitag (26.05.2023) in Belgrad stattfindet. Vucic möchte damit die Stärke der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) demonstrieren, deren Vorsitzender er ist. „Wir fühlen uns verpflichtet, den Präsidenten zu unterstützen – denn er hilft den Kosovo-Serben schon seit Jahren“, sagt Sladjan.
Doch diesmal geht es nicht um die Dauerspannungen zwischen Serbien und Kosovo. Vucic hat ganz andere Sorgen: Serbien ist nach zwei Amokläufen Anfang Mai mit insgesamt 18 Toten in Aufruhr. Vor allem die Morde an einer Belgrader Schule schockierten das Land – denn der Täter ist erst 13 Jahre alt.
Gefährlicher Protest für die Regierung
Die zersplitterte bürgerliche und links-grüne Opposition gibt im Wesentlichen Vucic und seinem System die Schuld an den Amokläufen. Schon dreimal versammelten sich zehntausende Demonstranten in Belgrad und blockierten eine Autobahnbrücke – aus Protest gegen ein „Klima der Gewalt“, das von regierenden Politikern und Vucic-treuen Medien geschürt werde.
Die Opposition verlangt den Rücktritt einiger Staatsfunktionäre sowie ein Verbot von Reality-Shows mit gewalttätigen Inhalten und den Entzug der Lizenz für Vucics „Haussender“ Happy und Pink. Der nächste Protest soll bereits am Samstag (27.05.2023) stattfinden. Dabei soll auch vor dem Sitz des öffentlich-rechtlichen serbischen Rundfunks RTS demonstriert werden.
„Die Proteste sind für die Regierenden gefährlich geworden“, sagt der Belgrader Politologe Vujo Ilic der DW. „Die Menschen wollten nach zwei Tragödien ihre Trauer zum Ausdruck bringen, aber nun nimmt alles eine politische Richtung. Auch, weil die Regierung den Fehler gemacht hat, die Demonstranten als ‚politische Aasfresser‘ zu bezeichnen.“
Unzufriedenheit wächst
Die meisten Medien bleiben der Vucic-Linie treu: Oppositionelle werden wahlweise als „Hyänen“ oder „fremdländische Agenten“ abgestempelt, die die Amokläufe zur Machtergreifung ausnutzen wollten. Doch unabhängige Beobachter im Land sind sich sicher, dass die Unzufriedenheit mit Vucic wächst.
Seit elf Jahren regiert Vucic das Balkanland mit eiserner Hand und laviert zwischen der EU und Russland. Innenpolitisch geriert er sich als „Übervater der Nation“ und verteilt Jobs an SNS-Parteigänger und treue Gefolgsleute. Seit er im Amt ist, stehen Wahlen unter Manipulationsverdacht.
Mit der Protestwelle konfrontiert – der größten seit seinem Amtsantritt – setzt Vucic nun auf eine eigene Kundgebung, die Kritiker in die Schranken weisen soll. „Er will mit einer ‚Gegendemo‘ seine Vormachtstellung auch auf der Straße zeigen“, so Ilic. „Die Botschaft an seine Wähler: Wir sind immer noch mehr als die.“
Zur Kundgebung gezwungen?
Doch es verdichten sich Hinweise, wonach Vucics Fortschrittspartei die Angestellten im öffentlichen Dienst zur Kundgebung zwingt oder andere Menschen mit kleinen Geldbeiträgen lockt. Hunderte Busse wurden schon gemietet, die Kulisse vor dem Parlament in Belgrad ist sorgfältig vorbereitet.
Marko, der in Wirklichkeit anders heißt, aber aus Angst seinen Namen nicht verraten will, arbeitet im öffentlichem Dienst in einem Ort in Südserbien und ist, wie die meisten dort, Mitglied der Fortschrittspartei. „Der Chef meiner Firma hat Ambitionen innerhalb der Partei. Deswegen ruft er Angestellte persönlich zur Teilnahme an der Kundgebung in Belgrad auf“, sagt Marko der DW. „Er zwingt keinen direkt, aber er ist der Chef. Wenn er dazu einen freien Tag verspricht, dann knicken die meisten ein“, erzählt der Mann.
Die Opposition bietet kostenlose Rechtshilfe für diejenigen, die man zur Kundgebung zwingt. Sieben oppositionelle Parteien haben die Staatsanwaltschaft aufgefordert, zu reagieren. Doch die Chancen dafür sind gering – auch die Justiz in Serbien ist in großem Maße Teil des Systems Vucic.
„Ich habe nichts dagegen, dass eine Million Menschen nach Belgrad wollen“, sagt Jelena Milosevic, die Abgeordnete der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit. „Aber ich habe sehr wohl etwas dagegen, wenn Menschen erpresst oder mit Jobverlust bedroht werden.“
Ebben die Proteste ab?
Vor den beiden großen Demos in Belgrad – die des Regierungslagers am Freitag und die der Regierungskritiker einen Tag danach – scheint noch offen, ob die Opposition endlich gegen ihren übermächtigen Gegner punkten kann oder ob Vucic, wie schon so oft, in eine vorgezogene Parlamentswahl flüchtet. Eine solche hatte er bereits angedeutet.
Derartige Wahlen hatte Vucic in den vergangenen Jahren mehrmals ausgerufen und dabei seine Macht zementiert, indem er Erdrutschsiege gegen eine Opposition erzielte, deren Spektrum von prorussischen Nationalisten bis zu proeuropäischen Demokraten reicht und die tief gespalten ist.
„Es ist jedoch fraglich, ob die Regierungspartei in dieser unvorhersehbaren Situation wirklich einen Wahlkampf starten möchte“, so der Politologe Ilic. Andererseits werde Vucic sicherlich nicht auf die Opposition zugehen – vor allem werde er nicht auf seine Mediendominanz verzichten.
Es ist möglich, dass die aktuelle Protestwelle mit der Zeit abebbt – genauso wie andere davor. Das befürchten jedenfalls viele im Oppositionslager und überlegen, ob der Protest radikalisiert werden sollte.
Marko hingegen wünscht sich einfach Ruhe, auf der einen wie der anderen Seite. Er muss zwar für die Fortschrittspartei zur Kundgebung, hat aber eigentlich keine Lust darauf. „Nach zwei Tragödien auf der Straße um die Vormacht zu kämpfen, finde ich einfach blöd.“