Debatte über Sozialleistungen für geflüchtete Ukrainer
Die Kritik in Deutschland am Umfang der Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge nimmt zu. Die Diskussion darüber spaltet auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geführte Mitte-Links-Koalition. Denn ausgerechnet ein führendes Mitglied der kleinsten Partei in der Regierungskoalition, der Freien Demokratischen Partei (FDP), hat sich dafür ausgesprochen, dass ukrainische Kriegsflüchtlinge kein Bürgergeld mehr erhalten sollten.
Bürgergeld wird die Grundsicherung für Arbeitssuchende genannt. „Neu angekommene Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sollten kein Bürgergeld mehr erhalten, sondern unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen“, sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai der Boulevardzeitung „Bild“. Dies, so schlug er vor, würde mehr Ukrainer dazu zwingen, sich einen Job zu suchen. „Wir haben überall Arbeitskräftemangel – zum Beispiel in der Gastronomie und im Baugewerbe oder im Pflegebereich“, fügte Djir-Sarai hinzu. „Wir sollten nicht länger Steuergelder verwenden, um Arbeitslosigkeit zu finanzieren, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen Arbeit bekommen.“
In Deutschland leben nach Regierungsangaben vom März 2024 rund 1,3 Millionen Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft, die meisten davon Frauen und Kinder. Dem Bundesinnenministerium zufolge sind rund 260.000 von ihnen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren.
Sowohl Scholz‘ Sozialdemokraten (SPD) als auch sein anderer Koalitionspartner, die Grünen, haben diese Idee abgelehnt. Dagegen bekam der FDP-Vorschlag unmittelbar Unterstützung von der oppositionellen konservativen CDU. „Es passt nicht zusammen, davon zu reden, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen, und im gleichen Atemzug fahnenflüchtige Ukrainer zu alimentieren“, sagte Brandenburgs CDU-Innenminister Michael Stübgen dem Zeitungsnetzwerk RND.
Vorwurf des nackten Populismus
Der Ökonom Marcel Fratzscher wies die Forderung der FDP jedoch als „nackten Populismus“ zurück. „Niemandem wird es besser gehen, niemand wird auch nur einen Euro mehr haben, wenn Deutschland Geflüchtete schlechter behandelt und ihnen Leistungen kürzt“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) dem RND.
Sprecher der Bundesregierung stellten schnell klar, dass die Haltung der FDP nicht mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz übereinstimme, und erklärten auf einer Pressekonferenz, dass es keine Pläne gebe, die Hilfe für ukrainische Flüchtlinge zu ändern.
Zugang zum Arbeitsmarkt
Alexander (Name geändert) ist ein 37-jähriger Ukrainer, der etwa ein Jahr lang in Berlin vom Bürgergeld lebte. Er könne die Forderungen von FDP und CDU verstehen, aber das Bürgergeld sei entscheidend gewesen, um ihm in einer sehr dunklen Phase seines Lebens zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen, sagt er der DW. „Als ich hierher kam, war ich völlig verloren, ich war mental verloren. Dann gingen wir Flüchtlinge zum Jobcenter und bekamen die Zahlungen. Wir bekamen die Unterstützung. In meinem Fall lief alles ziemlich reibungslos.“
Neben dem Bürgergeld – derzeit 563 Euro im Monat für Alleinstehende – bekam Alexander, der in der Ukraine als Musikproduzent und Sounddesigner arbeitete, Berufsberatung und Hilfe bei der Suche nach einem Deutschkurs. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz hätte er nur 354 Euro im Monat und keine Hilfe vom Jobcenter erhalten.
Alexanders Geschichte ist kein Einzelfall, wie aus einer Untersuchung von Kseniia Gatskova vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht. Gatskova koordinierte eine Langzeitstudie zu ukrainischen Kriegsflüchtlingen in Deutschland. „Natürlich ist das Bürgereinkommen wichtig. Es ermöglicht den Menschen, den Alltag zu bewältigen“, sagte die Forscherin der DW. „Aber Integration bedeutet viel mehr. Flüchtlinge brauchen umfangreiche Integrationsmaßnahmen: zum Beispiel Sprachkurse und Beratung in Jobcentern.“
Niedrige Erwerbsquote von Ukrainern in Deutschland
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit erhielten im März 2024 über 700.000 Ukrainer die Grundsicherung für Arbeitssuchende. Darunter waren 501.000 Menschen, die als erwerbsfähig eingestuft wurden, und 217.000, die es nicht waren – vor allem Kinder.
Etwa 185.000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind erwerbstätig und zahlen Sozialversicherungsbeiträge. Im Oktober 2023 ergab eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, dass die Integration ukrainischer Kriegsflüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt deutlich hinter der anderer EU-Länder zurückbleibt. Während in Deutschland gerade einmal 18 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge einen Job gefunden hatten, waren es in Polen, Tschechien und Dänemark zwei Drittel oder mehr.
Gatskova betont, die letzten zwei Jahre hätten gezeigt, dass die Quote der Ukrainer, die Arbeit gefunden hätten, gestiegen sei. „Sie integrieren sich sehr gerne in den Arbeitsmarkt — mehr als 90 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine wollen in Deutschland arbeiten“, erklärt sie und fragt dann: „Wie sollen sich die Leute in der Zeit finanzieren, in der sie noch nicht die deutsche Sprache gelernt haben, ihre Qualifikationen nicht anerkannt bekommen und noch keinen Job gefunden haben?“
Nicht jeder Ukrainer will kämpfen
Fakt ist: Wegen der alternden Bevölkerung Deutschlands werden ausländische Arbeitskräfte immer wichtiger. Doch was Kritiker des Bürgergelds für Ukrainer irritiert, ist, dass viele der männlichen Flüchtlinge, wie Alexander, im kampffähigen Alter sind und offenbar nicht an die Front wollen.
„Wie die Menschen hier den Krieg wahrnehmen und wie ihn ein Mann aus einem Land wahrnimmt, in dem Krieg herrscht, ist sehr unterschiedlich“, erklärt Alexander. „Ich denke, wenn ein Land Hilfe verspricht und die Menschen Hilfe brauchen, muss dieses Land den Menschen helfen.“ Er fühle sich Deutschland verpflichtet, sei wirklich dankbar und werde es mit seinen Steuern zurückzahlen.
„Ich denke, es ist richtig, Menschen zu unterstützen, wenn sie für ein oder zwei Jahre in ein Land kommen – als eine Investition in zukünftige Arbeitskräfte“, fügt er hinzu. „Das wird Deutschland helfen zu wachsen. Eine andere Frage ist: Wie lange sollten diese Menschen unterstützt werden? Aus meiner Sicht sollten es ein, zwei, höchstens drei Jahre sein.“
Forscher wie Kseniia Gatskova vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vertreten die Auffassung, dass die Unterstützung für Flüchtlinge grundsätzlich reformiert werden müsse. Egal, ob es sich um Ukrainer handele oder nicht: „Wir plädieren grundsätzlich dafür, dass institutionelle Hürden für Arbeitsmarktintegration abgeschafft werden. Die längeren Asylverfahren, Arbeitsverbote und Wohnsitzauflagen wirken sich negativ auf die Arbeitsmarktintegration aus.“