13. Juni 2024

Europawahl: Menschen mit Migrationsgeschichte in Sorge

Von Admins

Frankreich ist braun – jedenfalls sieht man auf der Karte, die die lokalen Wahlsieger nach der Europawahl darstellt, die anderen Farbtupfer erst bei genauerem Hinsehen. Der rechtsnationale Rassemblement National hat gut 31 Prozent der Stimmen erhalten und damit mehr als doppelt so viele wie das Bündnis von Präsident Emmanuel Macron – der noch am Wahlabend rasche Neuwahlen für die Nationalversammlung ausrief.

Nach der Wahl ist also vor der Wahl in Frankreich. Und während viele Menschen in Europa beunruhigt sind bei dem Gedanken, dass die Partei von Marine Le Pen in den letzten beiden Amtsjahren Macrons die Regierung stellen könnte, ist eine Gruppe ganz besonders beunruhigt: Eingewanderte und ihre Nachfahren.

„Einwanderer in Frankreich haben Angst“

Raja Ali Asghar ist vor 35 Jahren aus Pakistan nach Paris gekommen und steht heute der Pakistanisch-Muslimischen Liga Frankreichs vor. „Einwanderer, die in Frankreich leben, machen sich Sorgen um ihre Zukunft“, sagt er zur DW. „Rechte politische Parteien hatten schon immer besonders Einwanderer-feindliche Ansichten. Unter ihrer Regierung würden die Probleme der Immigranten zunehmen.“ So fürchte er Benachteiligungen bei der Jobsuche und dem Zugang zu Sozialleistungen. „Ich denke, die Probleme der Einwanderer in Europa werden in den nächsten Jahren zunehmen“, meint Raja Ali Asghar.

Hochkant-Wahlplakate des Rassemblement National an einer Hauswand
Europa-Spitzenkandidat Jordan Bardella und Parteichefin Marine Le Pen erleben derzeit Aufwind für ihre Partei, den rechtsnationalen Rassemblement NationalBild: Samuel Rigelhaupt/Sipa USA/picture alliance

Ähnlich sieht es Satar Ali Suman, der in Paris mehrere Restaurants betreibt und vor 24 Jahren aus Bangladesch eingewandert ist. „Jeder weiß, dass rechtsextreme politische Parteien Einwanderer und insbesondere Muslime nicht mögen. Einwanderer in Frankreich haben Angst vor den kommenden Tagen“, sagt Suman der DW.

„Der Faschismus ist angekommen“

Die französische Autorin Emilia Roig wird noch deutlicher: „Erkennt an, dass der Faschismus angekommen ist – lasst uns im Präsens darüber sprechen. Leugnung ist nicht hilfreich, sondern macht es nur noch schlimmer“, schreibt Roig, die in Berlin lebt, bei Instagram.

Und die Sozialarbeits-NGO Ghett’Up, die im Pariser Vorort Saint-Denis mit migrantischen Jugendlichen arbeitet, erklärt auf X angesichts der Neuwahlen: „Wir müssen in den Kampfmodus wechseln.“

Auch in Österreich gilt das Ergebnis der Europawahl als Stimmungstest für nationale Wahlen, die dort im Herbst stattfinden sollen: Die rechtspopulistische FPÖ wurde dort stärkste Kraft vor der konservativen ÖVP. In Italien holten die postfaschistischen Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bei der Europawahl die meisten Stimmen. Insgesamt können die rechtesten Fraktionen des Europäischen Parlaments einen deutlichen Machtgewinn verbuchen.

„Menschen wissen, dass die AfD eine rechtsextremistische Partei ist“

In Deutschland hat bei der Europawahl keine Partei so viele Stimmen hinzugewonnen wie dieAfD, die von den Inlandsgeheimdiensten bundesweit als rechtsextremer Verdachtsfall und in drei ostdeutschen Bundesländern sogar als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. In zweien dieser Bundesländer und einem weiteren wird im Herbst ein neuer Landtag gewählt – und in allen dreien lag die AfD bei der Europawahl klar vorne.

Das besorgt in Deutschland viele Menschen – etwa den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek: „Es gibt nicht nur ein Problem für die migrantische Community, sondern für die Demokratie. Ich glaube, das letztere haben Teile der demokratischen Parteien immer noch nicht verstanden“, sagt Mazyek im Interview der DW. „Die AfD ist zumindest in Ostdeutschland Volkspartei – das Märchen vom Protestwähler will ich nie mehr hören. Es sind ideologisch verbrämte Menschen, die genau wissen, dass das eine rechtsextremistische Partei ist.“

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland
ZMD-Chef Aiman Mazyek warnt gegenüber der DW vor den gesellschaftlichen Folgen des wachsenden Zuspruchs für die AfDBild: Friso Gentsch/dpa/picture alliance

Eyüp Kalyon, Generalsekretär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), des zahlenmäßig größten muslimischen Dachverbandes, spricht gegenüber der DW von tiefer Besorgnis über die gesellschaftliche Spaltung: „Wir müssen konstatieren, dass die extremen Ränder – rechts wie links – in einigen Bundesländern die Mehrheit bilden. Gemein ist beiden Richtungen, dass sie populistische und protektionistische Positionen beziehen und das gesellschaftliche Klima vergiften.“

„Jeder muss seinen Anteil leisten“

Die Europawahl fiel im westdeutschen Köln mit dem 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags auf der Keupstraße zusammen, bei dem 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Erst Jahre danach zogen Ermittler die Verbindung zur rechtsextremen Terrorgruppe NSU, die davor und danach insgesamt zehn Menschen aus rassistischen Motiven ermordete.

Dass an diesem Tag die AfD zweitstärkste Kraft wurde, sei „schwer zu ertragende Realität“, schrieb Cihan Sinanoğlu, Leiter des Forschungsprojekts „Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor“ auf X.

Meral Sahin steht vor einer Wand mit Bilderrahmen, sie trägt ein bunt gemustertes Kopftuch und einen olivgrünen Blazer
Die Geschäftsfrau Meral Sahin Bild: Tuncay Yildirim/ DW

Meral Sahin betreibt auf der Keupstraße selbst einen Laden – und war als Co-Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße selbst in das Gedenken involviert. Nach der Europawahl sagt sie der DW: „Es ist wahnsinnig traurig zu sehen, wie sich ganz Europa in Richtung rechts entwickelt. Was das für uns alle bedeutet? Ich glaube, vielen ist das gar nicht klar.“ In der Keupstraße hätten sie versucht, ihren Teil zu leisten, sagt Sahin der DW – und mahnt: „Es muss mehr werden. Jeder muss seinen Anteil dazu leisten.“

„Wenn diese Bewegungen an Kraft gewinnen, steigt auch die Bedrohungslage“

Die AfD war im Januar nach dem Bericht über ein Geheimtreffen in die Kritik geraten, bei dem diskutiert wurde, wie man massenhaft Menschen mit Migrationsbiografie aus Deutschland „remigrieren“ – also abschieben – könnte.

Vor Laubbäumen hängen übereinander zwei Wahlplakate von AfD und FDP
Mit Migration und Ängsten wurde auch in Deutschland Wahlkampf gemacht – die Sichtweise von Einwanderern und ihren Nachfahren spielte dabei kaum eine RolleBild: Revierfoto/dpa/picture alliance

Sorgen in migrantisch geprägten Bevölkerungsgruppen würden nicht adäquat beantwortet, kritisiert Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. „Vielmehr macht man sich Sorgen darum, Wählerschaften zu verlieren, das Vertrauen zu verlieren und damit sozusagen an Macht zu verlieren“, sagt Della zur DW. Das zentrale Problem sei jedoch ein anderes: „Wenn diese Bewegungen zunehmen und an Kraft gewinnen, steigt auch die Bedrohungslage für Menschen of Colour, Migrant*innen und Geflüchtete.“

Zuletzt warnten Opferberatungsstellen und Polizei vor einer deutlichen Zunahme politisch rechts motivierter Straftaten in Deutschland, insbesondere aus rassistischen und antisemitischen Motiven. Nach den Europawahlen befürchten nicht wenige, dass das Ende dieser Entwicklung auf dem gesamten Kontinent noch nicht erreicht ist.