Faktencheck: Wie falsche Narrative über ukrainische Flüchtlinge verbreitet werden
Seit Russlands Überfall auf die Ukraine haben andere europäische Länder nach UN-Angaben mehr als acht Millionen Menschen (8.054.405573, Stand 13. Februar 2023) aus der Ukraine als Flüchtlinge aufgenommen und registriert. Vielerorts wurden sie mit großer Solidarität und Hilfsbereitschaft empfangen. Doch es wurden auch Falschnachrichten, Hass- und Desinformationskampagnen über sie verbreitet, sagt Julia Smirnova vom Institute for Strategic Dialogue (ISD). „Das waren Falschmeldungen über angebliche Verbrechen oder Anschläge, die den Geflüchteten zugeschrieben wurden.“
Laut einer ISD-Analyse, die insbesondere russischsprachige Diskussionen über Flüchtlinge auf Telegram untersucht hat, unterscheiden sich dabei die Narrative je nach Zielgruppe. Dem Publikum in Russland wird vor allem vermittelt, die Menschen aus der Ukraine müssten vor vermeintlichen „Nazis“ fliehen, die angeblich das Land beherrschen. Zielgruppen im übrigen Europa wird dagegen vorgegaukelt, die Flüchtlinge seien undankbar, gewaltbereit und gefährlich, erklärt Smirnova. Zahlreiche Beispiele dafür hat auch die Fact-checking Community des European Digital Media Observatory (EDMO) gesammelt, ein europäischer Verbund von Faktencheckern und Medienexperten, dem auch das DW-Faktencheck-Team angehört.
Anhand solcher Beispiele lässt sich zeigen, in welcher Form bestimmte Erzählungen verbreitet und scheinbar belegt werden – und wie ihr Wahrheitsgehalt überprüft werden kann.
Flucht vor Nazi-Regime in Kiew?
Behauptung: Ukrainer fliehen vor Nazis.
Bereits vor dem Angriff auf die Ukraine haben russische Propagandamedien immer wieder behauptet, die Ukraine werde von Nationalsozialisten gelenkt, die alles Russische aus der Ukraine verbannen wollten. Demnach wäre es ein logischer Schluss, dass – vor allem russischsprachige – Ukrainer vor ihnen nach Russland fliehen; laut UNHCR haben seit Kriegsbeginn rund drei Millionen Ukrainer das Land gen Russland verlassen.
In dieser Meldung der Nachrichtenseite „News Front“ (Screenshot siehe oben) wird ein ukrainischer Soldat zitiert, der der „New York Times“ (NYT) berichtete: „Wir befreien Land, aber ohne Menschen darauf.“ Weiter wird geschlussfolgert, die Ukrainer seien aus dem zurückeroberten Land vor dem „Nazi-Regime“ geflohen.
DW-Faktencheck: Irreführend.
Das Zitat selbst, das die NYT in zwei Artikeln nutzt, ist korrekt widergegeben. Von Nazis als Fluchtgrund ist jedoch in keinem davon die Rede. In einem der beiden wird erklärt, dass Ukrainer, die unter russischer Besatzung gelebt hätten, nach Russland geflohen seien aus Angst, für Kollaborateure gehalten zu werden. Im anderen Artikel heißt es, bereits vor Eintreffen der russischen Armee seien 80 Prozent der Bevölkerung aus dem Donbass vor den Russen in die Westukraine oder andere Länder in Europa geflohen. Zudem habe die russische Armee eine unbekannte Zahl ukrainischer Zivilisten in Kämpfen oder außergerichtlichen Exekutionen getötet.
Natürlich ist es denkbar, dass es tatsächlich Ukrainer gibt, die der russischen Propaganda glauben und sich vor dem angeblichen Naziregime in Sicherheit bringen wollen. Auf die große Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge dürfte das aber nicht zutreffen. Auch nicht auf die fast drei Millionen, die sich nun in Russland befinden. Denn die Geschichte, die Ukraine würde von Nazis beherrscht, ist schlichtweg erfunden. Das haben wir in einem Faktencheck über Putins Kriegsgründe bereits nachgewiesen.
Darüber hinaus berichten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International, dass viele ukrainische Flüchtlinge – die US-Regierung spricht von Hunderttausenden – unfreiwillig nach Russland gelangt sind. Demnach haben russische oder pro-russische Soldaten Busladungen ukrainischer Zivilisten ohne deren vorheriges Wissen oder gar unter Zwang aus russisch besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland gebracht. Zudem hat eine unbekannte Zahl Russland als Transitland Richtung Westen genutzt.
Wie in sozialen Medien versucht wird, die Mär von den ukrainischen Nazis zu untermauern, haben wir Ende November in einem weiteren Faktencheck gezeigt.
Fake News unter falscher Flagge
Medien zu zitieren, die im Westen eine hohe Reputation genießen, ist ein wiederkehrendes Muster. ISD-Analystin Smirnova erinnert daran, wie etablierte Medien sogar kopiert werden, um das Publikum zu täuschen und Desinformationskampagnen glaubhaft zu machen. Diese Technik wird auch eingesetzt, um ukrainische Flüchtlinge zu diffamieren.
Behauptung: Ukrainer erpressen Menschen in Gastgeberländern
Unter anderem wurde in einem angeblichen DW-Video behauptet, ein junger Ukrainer habe zahlreiche deutsche Frauen erpresst.
DW-Faktencheck: Falsch.
Da wir darüber in einem früheren Faktencheck ausführlich berichtet haben, machen wir es diesmal kurz: Dem Bundeskriminalamt (BKA) ist kein solcher Fall bekannt. Und das Video stammt nicht von der DW sondern ist ein Fake, wie wir anhand von kleinen Abweichungen von Schriftart und Layout nachweisen konnten.
Werden ukrainische Flüchtlinge besser behandelt als die eigene Landesbevölkerung?
Der Fake-News-Experte Tommaso Canetta von EDMO erklärt: „Ukrainische Flüchtlinge sind Ziel von Desinformation auf vielen Ebenen. Sie seien Nazis, gewalttätig, Parasiten. Im Grunde beuten sie die Aufnahmeländer aus.“ Dazu werden teilweise Geschichten frei erfunden und auf unterschiedliche Weise in die Öffentlichkeit getragen.
Behauptung: Krebskranke polnische Kinder müssen ukrainischen Flüchtlingen weichen
In einem Tweet wurde behauptet: „Polnische Kinder werden aus onkologischen Krankenhäusern geworfen. Heute hat mich meine Nachbarin angerufen, sie haben ihren vierjährigen Sohn aus der onkologischen Klinik geworfen, weil es einen Platz für ukrainische Kinder geben muss. Sie hat mich gebeten, die Behandlung ihres Sohnes zu arrangieren, weil sie weiß, dass ich Ärzte in meiner Familie habe.“
DW-Faktencheck: Unbelegt.
Die polnischen Faktencheck-Plattformen „FakeHunter“ und „Demagog“ haben diese Behauptung untersucht. Demnach dementierten das polnische Gesundheitsministerium und die Polnische Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (PTOHD) den Vorwurf. Außer dem Tweet gebe es in polnischen Medien keine Hinweise auf den angeblichen Vorfall.
Möglicherweise ist er also frei erfunden. Unglaubwürdig ist auch der Absender: das Twitter-Profil @aga34686913 mit der Selbstbeschreibung „Katholisch. Konservativ.“ Es wurde im März 2021 erstellt und ist mittlerweile wegen Richtlinienverstößen gesperrt. Im Webarchiv ist aber zu sehen, wie über dieses Profil allein zwischen dem 21. und dem 28. März 2022 fast 100 Tweets abgesetzt oder retweetet wurden – ein großer Teil mit nationalistischen und anti-ukrainischen Inhalten – viele Tweets stammen von dem Account @Michali49393358, der ähnliche Merkmale aufweist. All das sind Hinweise darauf, dass es sich um einen Troll handeln könnte, also einen Social-Media-Account, der nur dazu dient, anonym bestimmte Inhalte zu verbreiten. Oft werden sie von Bots gesteuert, also Computerprogrammen, die einschlägige Inhalte automatisch identifizieren und weiterverbreiten. Wie man Bots, Fake-Accounts und Trolle erkennt, zeigen wir hier.
Die polnischen Faktenchecker haben herausgefunden, dass das Profilfoto erstmals 2017 auf dem Instagram-Account @annikaboron aufgetaucht ist. Das Konto mit 139.000 Followern gehört Annika Boron, die in Toronto als Immobilienmaklerin arbeitet. Nach dem polnischen Twitter-Profil mit ihrem Foto gefragt, antwortete sie der DW: „Ich habe definitiv nichts mit diesem Account zu tun! Mein Foto wird häufig für Fake-Profile benutzt.“
Führen sich ukrainische Geflüchtete undankbar und unzivilisiert auf?
Eine andere Fake-News-Technik nutzt authentische Bilder, die in einen neuen Kontext gestellt werden. Wie einfach das gehen kann, zeigt ein Video von einem Feuerwehreinsatz in Krakau.
Behauptung: Eine ukrainische Flüchtlingsfamilie wird gewaltsam von der Polizei aus ihrer nicht bezahlten Wohnung entfernt.
DW-Faktencheck: Irreführend.
Ein Video, das ab Anfang Dezember 2022 auf russischen, polnischen und deutschen Accounts verbreitet wurde, zeigt angeblich, wie eine Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine gewaltsam von der Polizei mit Unterstützung der Feuerwehr aus einer illegal besetzten und verwüsteten Wohnung in Krakau entfernt werden musste, nachdem sie ihre Miete nicht bezahlt haben soll. Zu sehen ist lediglich, wie zwei Feuerwehrleute im Korb eines Leiterwagens unter den Blicken Schaulustiger versuchen, durch ein Fenster im zweiten Stock eines Altbaus einzudringen. Im Hintergrund sind Stimmen auf Polnisch und Spanisch zu hören.
Eine Recherche der Kiewer Journalistenplattform Stop Fake hat ergeben, dass das vollständige Video bereits Anfang Oktober 2021, also gut vier Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine auf Youtube hochgeladen wurde. Der Einsatz kann also nichts mit ukrainischen Kriegsflüchtlingen zu tun haben.
Der deutsche Account mag auf den ersten Blick recht authentisch wirken. Auffällig ist allerdings, dass die Twitter-Adresse @Stadler05922751 das gleiche Muster wie die beiden zuvor genannten Profile aufweist: ein Name mit einer langen Ziffernfolge. Auch das Foto wirkt bei näherer Betrachtung sehr gestellt für einen privaten Social-Media-Account. Es handelt sich um ein häufig im Internet genutztes Bild; seine Spur lässt sich bis zu einer Haarschnitt-Werbung zurückverfolgen. Der im Twitter-Profil angegebene GETTR-Account des angeblichen „Max Stadler“ zeigt einen ganz anderen Mann im Profilbild.
Sind ukrainische Flüchtlinge besonders kriminell oder gewalttätig?
Um das Narrativ weiter zu bedienen, werden erfundene Geschichten verbreitet, in denen Ukrainer angeblich Straftaten gegen Einheimische begehen. „Vielleicht werden alte Bilder von einem echten ukrainischen Staatsbürger genutzt, wie er in Rom, Paris oder Berlin jemanden verprügelt“, erklärt Canetta, „nur diesmal mit dem Hinweis: Das ist ein ukrainischer Kriegsflüchtling.“ Besonders authentisch wirkt derartige Propaganda, wenn sie achtlos von Accounts echter Menschen aus echter Empörung oder gar Angst verbreitet werden.
Behauptung: Ukrainer schlagen russischstämmigen Flüchtlingshelfer tot.
In einem TikTok-Video berichtete eine Frau auf Russisch, ein 16-jähriger Russisch sprechender Flüchtlingshelfer sei in Euskirchen bei Köln von ukrainischen Flüchtlingen zusammengeschlagen worden und später seinen Verletzungen erlegen
DW-Faktencheck: Falsch.
Auch diese Geschichte haben wir bereits in einem früheren Faktencheck aufgegriffen und analysiert. Sie entpuppte sich als frei erfunden. Die Frau hatte sie von einem Bekannten gehört und emotional auf Tiktok verbreitet. Die zuständige Polizei dementierte, dass es einen solchen Überfall gegeben habe, und auch die umliegenden Krankenhäuser konnten keinen solchen Fall bestätigen. Kurz darauf entschuldigte sich die Frau in einem weiteren Video, sie sei offenbar einer Falschinformation aufgesessen.