Flüchtlingsgipfel: Mehr Zusammenarbeit statt Geld
Zweieinhalb Stunden waren für das Spitzengespräch im Bundesinnenministerium angesetzt, vier Stunden wurden es am Ende. Ein Hinweis darauf, wie groß der Gesprächsbedarf vor allem der Städte und Gemeinden war und ist. Die Kapazitäten seien erschöpft, man sei bei der Aufnahme von Flüchtlingen an der Belastungsgrenze, so hatten es Bürgermeister in mehreren Brandbriefen an den Bundeskanzler formuliert.
Meinungen sehr weit auseinander
Von einem „offenen“ und „konstruktiven“ Austausch sprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser, was eine Umschreibung dafür ist, dass die Meinungen noch weit auseinander gehen. Wie weit, das machte der Präsident des Deutschen Landkreistages, also der Vertreter der Kommunen deutlich. Man dürfe sich nicht vorstellen, dass in den vier Stunden „ausnahmslos hervorragende Ergebnisse produziert“ worden seien, so Reinhard Sager. „Das ist leider nicht der Fall.“
Was Städte und Gemeinden am meisten ärgert: Von der Innenministerin gab es keine Zusagen für weitere finanzielle Hilfen. 2022 hat der Bund die Länder und Kommunen finanziell mit 3,5 Milliarden Euro unterstützt und für das laufende Jahr sind 2,75 Milliarden Euro veranschlagt. „Über den Fahrplan und die Finanzierung weiter zu reden und Bilanz zu ziehen, darüber werden der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten um Ostern herum weiter verhandeln“, versprach Nancy Faeser.
Doch bis dahin sind es noch einige Wochen. Die Versorgung der Geflüchteten aus der Ukraine sei ein Kraftakt, gestand Faeser ein, die den Kommunen für ihr „herausragendes Engagement“ dankte. „So viele Menschen gut unterzubringen und zu versorgen, Kindern in Kitas und Schulen Halt zu geben, das kostet immer mehr Kraft, je länger es dauert, und das bringt uns nicht überall aber an vielen Orten an Grenzen.“
Deshalb sei es wichtig, genau zu identifizieren, wo die Belastungen besonders groß sind und wo welche Kapazitäten noch genutzt werden können. Hilfreich sind dabei frische Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Bis zum 12. Februar 2023 suchten demnach 1.062.029 Menschen aus der Ukraine Schutz in Deutschland. Rund zwei Drittel kamen in den ersten drei Monaten nach dem 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel.
Zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe
Da laut Statistik in dieser Zeit 139.000 Ukrainer in ihre Heimat zurückkehrten, ergibt sich unter dem Strich für 2022 eine Zuwanderung von 962.000 Menschen. „Die Nettozuwanderung war im vergangenen Jahr größer als die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in den Jahren 2014 bis 2016 zusammen (834.000)“, heißt es in einer Destatis-Pressemeldung.
Die Bevölkerung mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, die im vergangenen Januar bei 138.000 lag, versiebenfachte sich damit. „Ukrainische Staatsangehörige waren damit nach türkischen Staatsangehörigen (1,6 Prozent oder 1,33 Millionen) die zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe in Deutschland“, errechnete Destatis.
Die meisten fanden Aufnahme in den bevölkerungsreichsten Bundesländern Nordrhein-Westfalen (210.000), Bayern (152.000), Baden-Württemberg (135.000) und Niedersachsen (105.000). Setzt man den Anteil der Flüchtlinge in Relation zur jeweiligen Gesamtbevölkerung der Bundesländer ergibt sich ein anderes Bild: Die meisten lebten in Berlin und Hamburg mit je 1,5 Prozent. Die wenigsten in Schleswig-Holstein (1 Prozent).
Doppelt so viele Frauen wie Männer
Weil Männer nur bedingt aus der Ukraine ausreisen durften, waren 63 Prozent der Geflohenen weiblich und vergleichsweise jung: Nur 13 Prozent waren im vergangenen Oktober älter als 60 Jahre; rund ein Drittel war jünger als 18 Jahre. In den Altersgruppen ab 18 Jahren kamen mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer aus der Ukraine nach Deutschland.
Das Statistische Bundesamt verwies bei seinen Angaben auf erhebliche Unsicherheiten. Diese ergeben sich demnach vor allem daraus, dass Zuzüge oft erst mit erheblicher Verzögerung oder auch gar nicht melderechtlich erfasst würden. In noch stärkerem Maße gelte dies für Ausreisen, wenn sich Betroffene nicht abmelden.
Die Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ liefert weitere Details. Fast drei Viertel (74 Prozent) der Geflüchteten sind einer Befragung zufolge direkt nach ihrer Ankunft in private Wohnungen gezogen, mehr als die Hälfte bewohnt diese allein oder mit geflüchteten Angehörigen. Die Studie wurde vom Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dem BiB und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erstellt.
Ein Zeichen für die deutsche Willkommenskultur
„Es zeigt sich, dass sich die deutliche Mehrheit in Deutschland willkommen fühlt“, sagte Nina Rother vom Bamf-Forschungszentrum auf der gemeinsamen Pressekonferenz der Institute in Berlin. Dies gelte unabhängig von Alter und Geschlecht und spiegele die „hohe Willkommenskultur und Solidarität“ in Deutschland wider. Weitere Kernbotschaften der Studie: Rund 37 Prozent der Geflüchteten wollen langfristig in Deutschland bleiben, weitere 34 Prozent nur bis Kriegsende. Lediglich zwei Prozent planen, innerhalb eines Jahres zurückzukehren.
Obwohl die Zahl der Plätze in Aufnahmeeinrichtungen der Bundesländer ausgebaut wurde, sei die Aufnahmeinfrastruktur in fast allen Bundesländern stark ausgelastet, hält die Studie zudem fest. „Es ist wichtig, Integrations- und Unterstützungsmaßnahmen auf einen langfristigen Aufenthalt auszurichten“, erklärte Yuliya Kosyakova vom IAB. Die Integration ukrainischer Frauen werde ohne geeignete Kinderbetreuung erschwert. Viele litten unter der Trennung von engen Angehörigen und benötigten psychosoziale Betreuung. Soziale Beziehungen und Netzwerke seien sehr wichtig für das Ankommen in Deutschland.
Integration auf dem Arbeitsmarkt
Zudem müssen die Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt integriert werden. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit ukrainischer Staatsangehörigkeit stieg laut Bundesagentur für Arbeit von November 2021 bis November letzten Jahres von 57.000 auf rund 125.000.
Inwieweit die Flüchtlings-Aufnahmeinfrastruktur Deutschlands an ihre Grenzen stoßen könnte, werden vermutlich die nächsten Wochen zeigen. Möglich ist, dass die bevorstehende Frühjahrsoffensive der russischen Armee wieder Menschen zwingt, sich in Sicherheit zu bringen. „Es hatten ja viele aufgrund der starken Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung, auf die Infrastruktur und die Unterkünfte befürchtet, dass es im Winter zu einer größeren neuen Fluchtbewegung kommen könnte. Das ist bislang nicht passiert“, erklärte der Sprecher des Bundesinnenministeriums Maximilian Kall in der Bundespressekonferenz. Dies lasse sich aber sehr schwer prognostizieren, weil es vom weiteren Verlauf des Kriegs in der Ukraine abhinge.
Keine größere Fluchtbewegung im Winter
Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sind 8.054.405 Ukrainer als Flüchtlinge in Europa registriert (Stand 7.02.2023). Die meisten wurden in Polen aufgenommen (1.541.394), vor Deutschland (1.062.029) und Tschechien (487.393).
Die Bundesregierung drängt innerhalb der EU darauf, die Flüchtlinge besser zu verteilen. „Dass größere EU-Staaten wie zum Beispiel Spanien nur 150.000 Geflüchtete aufgenommen haben, kann so nicht bleiben“, betonte Bundesinnenministerin Nancy Faeser in Berlin. Acht von zehn Geflüchteten des letzten Jahres seien aus der Ukraine gekommen. „Putins verbrecherischer Angriffskriegs hat mitten in Europa die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.“
Jenseits der Verteilung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sei es aber wichtig, die Migration nach Deutschland grundsätzlich stärker zu steuern und zu ordnen, so Faeser. „Wir haben unsere Grenzkontrollen zu Österreich verlängert und zu Tschechien die Schleierfahndung an der Grenze intensiviert. Mit der Schweiz habe ich gemeinsame Kontrollen in Schweizer Zügen und an der Grenze vereinbart und wir wollen auch die konsequente Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern stärken.“
Migrationsbeauftragter will neue Wege mit Drittstaaten gehen
Dafür soll Joachim Stamp (FDP), der neue Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Abkommen mit Drittstaaten aushandeln. Es sei jetzt notwendig, „neue Wege“ zu gehen, sagte Stamp in Berlin. In den Abkommen sollen einerseits Rückführungen und andererseits der Zuzug von in Deutschland benötigten Fachkräften geklärt werden.
Ein Abkommen mit dem Irak sei bereits „in der Pipeline“, verriet Stamp, der allerdings betonte, dass Erfolge nicht kurzfristig zu erreichen seien. „Es gibt wesentliche Herkunftsländer, mit denen im Moment solche Partnerschaften schlichtweg nicht möglich sind. Wir brauchen also für diesen Paradigmenwechsel von der irregulären zu regulären Migration ein langen Atem und auch Geduld.“