30. März 2023

Präzedenzfall in Straßburg: Ist Klimaschutz ein Menschenrecht?

Von Admins

Vor dem futuristischen Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg sind einige Dutzend Demonstrantinnen aufgezogen. Hauptsächlich kommen sie aus der Schweiz. Sie gehören zu den „KlimaSeniorinnen Schweiz“ – laut eigenen Angaben mehr als „2000 Frauen im Pensionsalter“ mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren, die ihren Heimatstaat wegen Verletzung ihrer Menschenrechte verklagt haben. Die Umweltorganisation „Greenpeace“ unterstützt die Klage.

Vier der Damen vertreten die Klima-Seniorinnen bei der Anhörung im Straßburger Gerichtssaal. Eine von ihnen ist Rosmarie Wydler-Wälti: „Für uns ältere Frauen besteht eine Übersterblichkeit in Hitzewellen“, hatte sie vor der Verhandlung vorgebracht.

Ihre Argumentation: Weil die Schweiz nicht genug gegen Klimawandel und Umweltverschmutzung, und damit auch gegen Hitzewellen unternehme, gefährde sie die Gesundheit der Klägerinnen und verletze ihr Recht auf Leben.

 

Strassburg Europäscher Gerichtshof EGMRDie große Kammer verhandelt im EGMR-Gebäude, das an Aluminiumtöpfe erinnert

Regierungs-Anwalt: keine Grundlage für Verfahren

Der Anwalt der Schweizer Regierung, Alain Chablais, sah das vor der Großen Kammer des Menschenrechts-Gerichts völlig anders: „Die Schweiz hat eine lange Liste von Gesetzen erlassen, um den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen zu reduzieren.  Es ist unfair zu behaupten, dass die Schweiz untätig wäre oder sich weigern würde, Grenzwerte festzulegen“, argumentierte der  Jurist.

Eine Person mit Rucksack und Messgerät schreitet über einen schneefreien Gletscher, an den Seiten ist der Fels zu sehenSchweizer Gletscher schmelzen in Rekordtempo. Ist eine Klimaklage wegen Verletzung von Menschenrechten möglich?

Bis 2030 sollten die Emissionen halbiert und bis 2050 auf Null gesenkt werden. Sein Hauptargument ist aber, dass sich aus der Menschenrechtskonvention des Europarates, der Grundlage für die Rechtsprechung in Straßburg, kein individuelles Recht auf Klimaschutz ableiten lasse.

„Änderungen in der Klimapolitik kann man nicht durch einen Gerichtsbeschluss erzwingen. Die Bekämpfung des Klimawandels und Umweltpolitik werden weiter ein Feld für politische, demokratische Entscheidungen bleiben.“ Schließlich müsse am Klimaschutz die ganze Gesellschaft mitwirken, nicht nur die Regierung, sagte Chablais. Das ganze Verfahren habe keine Grundlage.

Vier Richter hinter holzvertäfelten Bänken im Europäischen Gerichtshof für MenschenrechteGerichtspräsidentin Siofra O’Leary leitet das ungewöhliche Verfahren

„Recht auf Anhörung“

Die Anwältin der Klägerinnen, Jessica Simor, hielt dagegen, dass der EGMR den Klima-Seniorinnen als letzter Ausweg geblieben sei: „Die Schweizer Gerichte haben die Auswirkungen auf die Antragsteller einfach ignoriert. Das Recht der Antragsteller auf rechtliches Gehör wurde verletzt.“

Schweizer Gerichte hatten zwei Klagen der Klima-Aktivistinnen als unzulässig abgewiesen. Der EGMR ist ein Organ des Europarates, eines europaweiten Staatenbundes. Von der Europäischen Union ist er völlig unabhängig.

Die Zuschauerränge des Gerichtsaals vornehmlich besetzt mit älteren Frauen und Männern Hoffnungsvolle Klägerinnen erwarten ein Urteil gegen die Schweiz vielleicht im nächsten Jahr

Bevor es überhaupt um die Einzelheiten der Klimapolitik gehen kann, erklärte Richter Arnfinn Bardsen aus Norwegen, gehe es allerdings um die Frage: „Was ist die rechtliche Grundlage dafür, dass sich dieses Gericht mit dieser Aufgabe und der sehr weit reichenden Beurteilung von nationaler Politik beschäftigen sollte?“

Bardsen ist einer der 22 Richterinnen und Richter, die im Sitzungssaal des Gerichts fast drei Stunden die Argumente der Parteien anhörten. Bis zu einem Urteil könnte es ein bis zwei Jahre dauern. Der EGMR wird die Klage der Schweizerinnen mit zwei ähnlichen Fällen zusammenfassen und dann grundsätzlich urteilen.

Damien Careme Frankreich Ex-Bürgermeister Damien Careme hat Frankreich wegen Untätigkeit in Straßburg verklagt

Damien Careme, ein ehemaliger französischer Bürgermeister aus Grand-Synthe in der Normandie, hatte Frankreich wegen Untätigkeit beim Klimaschutz verklagt. Sein Fall wurde ebenfalls heute angehört. Im Sommer folgt dann noch die Verhandlung über eine Klage von jugendlichen Klimaschützern aus Portugal, die gleich 30 Staaten wegen Verletzung ihrer Grundrechte belangen wollen.

Klägerinnen hoffen auf Präzedenzurteil

Es sei das erste Mal, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Zusammenhang von Grundrechten und Klimaerwärmung beschäftige, teilte die Pressestelle des Gerichts mit. Der Gerichtshof urteilt sonst meist über Klagen aus den 46 Mitgliedsstaaten des Europarates, die sich mit Fehlurteilen, Verhaftungen, Folter und staatlicher Willkür befassen.

„Das Gericht hat erkannt, dass es dringend und wichtig ist, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Staaten die Menschenrechte von uns älteren Frauen verletzen, wenn sie die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen nicht ergreifen“, sagte die Co-Vorsitzende der Klima-Seniorinnen Rosmarie Wydler-Wälti nach der Anhörung in Straßburg.

Eine weitere Klägerin, Anne Mahrer, hofft auf einen Präzedenzfall, der die Staaten dazu bringt, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten. „Das ist ein historischer Tag“, sagte Anne Mahrer im Deutschlandfunk. Die Damen hoffen außerdem, dass sie den Tag des Urteilsspruchs noch in guter Gesundheit erleben werden. Die älteste der ursprünglichen Klägerinnen (Jahrgang 1931) ist zwischenzeitlich verstorben.

Vier junge Menschen blicken von einer Felsenküste offenbar aufs Meer hinausPortugiesische Jugendliche klagen gegen mehr als 30 Staaten wegen mangelndem Klimaschutz