Streikwelle: Stillstand in Deutschland
Gerade erst waren zwei mehrtägige Bahnstreiks überstanden, da hatte die Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi zum nächsten Streik aufgerufen. Diesmal traf es Flughäfen, dort legten die Luftsicherheitskräfte am 1. Februar ihre Arbeit nieder. Rund 25.000 Beschäftigte waren zum Streik aufgerufen worden. Sie arbeiten an den Kontrollen für Passagiere, Gepäck und Personal. Ohne sie ist kein Betrieb der Sicherheitsbereiche an den Flughäfen möglich. Für die Flugreisenden auf den Flughäfen in Hamburg, Bremen, Hannover, Berlin, Köln, Düsseldorf, Leipzig, Dresden, Erfurt, Frankfurt am Main und Stuttgart hieß das: Geduld üben.
Gleich einen Tag später, am Freitag, wird im Nahverkehr gestreikt. Er trifft über 130 kommunale Unternehmen, die für den Bus-, U-Bahn- und Straßenbahnverkehr in 81 Städten und 42 Landkreisen zuständig sind.
Und es droht weiteres Ungemach. Auch bei der Lufthansa könnte es bald zu einem neuen Streik kommen – und zwar beim Kabinenpersonal. Denn die Flugbegleiter-Gewerkschaft UFO hat die Tarifverhandlungen abgebrochen.
Steigt die Streiklust der Deutschen?
Für große ausufernde Streiks ist eigentlich Frankreich bekannt, in jüngster Zeit wird gefühlt auch in Deutschland immer mehr gestreikt. „Das hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass in den Bereichen gestreikt wird, beispielsweise im Verkehrssektor, in denen ganz viel Bürgerinnen und Bürger betroffen sind“, sagt dazu Thorsten Schulten von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Wenn in anderen Sektoren, wie Bau, Chemie oder Metall unter Umständen auch mit viel mehr Menschen gestreikt werde, dann würde das in der Öffentlichkeit gar nicht so wahrgenommen, weil der Alltag nicht beeinflusst sei. Ob tatsächlich mehr gestreikt wird, sei aber unklar, weil er noch keine genauen Zahlen zu Streiks im letzten Jahr habe, meint der Arbeitsmarktexperte.
Allerdings sei die Streikbeteiligung im letzten Jahr höher gewesen. Selbst die Gewerkschaften hätten sich erstaunt darüber gezeigt, wie viele Menschen sich dem Streikaufruf tatsächlich anschließen und zudem in die Gewerkschaft eintreten, so Schulten.
„Wir sehen heute sicherlich mehr Streiks als vor zehn oder 20 Jahren“, sagt Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Allerdings gab es natürlich auch Phasen wie in den 1980er Jahren in Deutschland, in denen sehr viel gestreikt wurde.“
Vergleicht man die Arbeitskämpfe in Deutschland mit denen in den Nachbarländern, dann ist es hier vergleichsweise ruhig. In den Jahren 2012 bis 2021 sind in Deutschland durchschnittlich 18 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigten pro Jahr ausgefallen. In Frankreich und Belgien dagegen 92 beziehungsweise 96 Tage.
Wandel vom Arbeitgeber zum Arbeitnehmermarkt
Gestreikt wird in Deutschland vor allem, weil die Inflation den Menschen sehr zugesetzt hat. „Ganz viele Menschen haben heute eine geringere Kaufkraft, weil die Löhne in den letzten drei Jahren deutlich weniger stark gestiegen sind als die Preise und die Menschen jetzt einen Ausgleich für diesen Kaufkraftverlust haben möchten“, glaubt DIW-Chef Fratzscher.
Gestreikt wird aber auch, weil es einen Arbeitskräftemangel durch die demografische Entwicklung gibt. „Wir haben 1,8 Millionen offene Jobs. Das macht die Beschäftigten selbstbewusster. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen, eine bessere Bezahlung und wollen das auch durchsetzen“, so Fratzscher. Dementsprechend wird nicht nur für mehr Geld, sondern auch beispielsweise für weniger Arbeitszeit gestreikt wie beim Bahnstreik Anfang des Jahres. Die Streiks in dieser Woche auf den Flughäfen und im Personennahverkehr verteidigte Verdi-Chef Frank Werneke dementsprechend: „Die Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen sind so katastrophal, dass die Menschen Entlastung haben wollen.“
Insgesamt werde sich die Verschiebung von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt in den kommenden Jahren noch beschleunigen, mutmaßt Fratzscher. „Ich sehe die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren mehr Streiks und Arbeitskämpfe sehen werden.“ Signale gibt es bereits: „Wir werden den Konflikt nicht mit dem Wattebausch lösen“, kündigte etwa die neue Chefin der Gewerkschaft IG Metall in Baden-Württemberg, Barbara Resch, an.
Vor allem aber stehen in diesem Jahr wichtige Lohnrunden an, beispielsweise im Bankgewerbe, im Baugewerbe, in der Chemischen Industrie und in der Metall- und Elektro-Industrie. Ende 2024 enden auch die Tarifverträge bei der Deutschen Post und im Öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Insgesamt wird es Tarifverhandlungen für etwa 12 Millionen Beschäftigte geben, so das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans Böckler Stiftung (WSI).
Jahrzehntelanger Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften
Wenn es um die Macht der Gewerkschaften geht, gilt sowohl die Zahl der Mitglieder als auch der Grad der Tarifbindung als Indikator. Gute Nachrichten gab es gerade von der Dienstleistungsgesellschaft Verdi, die sich über ein Mitgliederplus von rund 40.000 Menschen im vergangenen Jahr freut. Sie hat damit so viele neue Mitglieder gewonnen wie noch nie seit ihrer Gründung 2001. Schaut man aber auf die letzten dreißig Jahre, haben die Gewerkschaften beständig und in großem Ausmaß Mitglieder verloren.
Diesen Abwärtstrend zu durchbrechen ist nicht einfach, denn die Demographie macht sich auch bei den Gewerkschaften bemerkbar. Ihre Mitgliederstruktur entspreche nicht der Beschäftigtenstruktur, erklärt Schulten. Die großen geburtenstarken Jahrgänge, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, seien auch in den Gewerkschaften deutlich überrepräsentiert. „Das heißt, die Gewerkschaften müssen alleine um ihren Mitgliederstand zu halten, jedes Jahr per Saldo mehr neue Beschäftigte aufnehmen, und das ist eine richtige Herkulesaufgabe“, so Schulten.
Er geht davon aus, dass insbesondere Verdi die vielen neuen Mitglieder vor allen Dingen den Arbeitskämpfen zu verdanken habe. Den Umkehrschluss, dass die Gewerkschaften die Streiks vielleicht aus eigenen Machtkalkül vorantreiben, will er aber nicht ziehen. Auch Fratzscher hält das nicht für plausibel, allerdings meint er, „Gewerkschaften streiken auch, um Mitglieder zu werben oder anderen Gewerkschaften Mitglieder abzuluchsen – wie im Fall der Lokführergewerkschaft GDL“.
Macht durch Tarifbindung
Auch bei der sogenannten Tarifbindung mussten die Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten Federn lassen. Waren Anfang der 1990er Jahre in Deutschland etwa 80 Prozent der Beschäftigten in tarifgebunden Jobs, sind es jetzt nur noch knapp die Hälfte. Die andere Hälfte arbeitet in Unternehmen, die nicht an Tarifverträge mit Gewerkschaften gebunden sind, sondern Hausverträge haben.
Dabei gewähren Tarifverträge auch Arbeitgebern viele Vorteile. Beispielsweise gewinnen sie Planungssicherheit während der Laufzeit von Tarifverträgen, weil da nicht gestreikt werden darf. In Zeiten mit Vollbeschäftigung, wie in den 1960er Jahren hätten die Arbeitgeber Flächentarifverträge bevorzugt, während die Gewerkschaften lieber auf betrieblicher Ebene verhandeln wollten, so Schulten. „Danach haben viele Unternehmen eine Tarifbindung offensichtlich nicht mehr für nötig gehalten, insbesondere in den 2000er Jahren, wo es eine hohe Massenarbeitslosigkeiten gab.“ Möglicherweise sei nun, mit der verbesserten Position der Arbeitnehmer wieder ein Wendepunkt gekommen sei, an dem die Arbeitgeber eher bereit seien, Tarifverträge abzuschließen, sagt Schulten.
Den Plänen der EU-Kommission würde das entgegenkommen. Sie hat im Herbst 2022 eine Richtlinie erlassen, nach der die Tarifbindung in den Mitgliedstaaten auf mindestens 80 Prozent angehoben werden soll. Diese Richtlinie muss innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will das seit langem angekündigte Tariftreuegesetz in diesem Frühjahr auf den Weg bringen. Zur Stärkung von Tarifverträgen werde die Regierung im Frühjahr ein Gesetz vorlegen: „Wir wollen, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen“, so der Minister.