14. April 2024

Ukraine: Wie geht es mit Selenskyjs Amtszeit weiter?

Von Admins

Am 20. Mai endet die formelle Amtszeit des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ende März hätten die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen, aber das Parlament hat sie wegen des im Lande herrschenden Kriegsrechts nicht angesetzt. In der ukrainischen Gesellschaft wird unterdessen die Frage diskutiert, wer das Land nach Ablauf von Selenskyjs jetziger fünfjähriger Amtszeit als Präsident regieren soll.

Zu Beginn des Jahres trauten sich nur wenige Politiker und Kommentatoren an diese Frage heran. Ende Februar, als Selenskyj eine Bilanz zu zwei Jahren Krieg mit Russland zog, bezeichnete er Versuche, seine Legitimität in Frage zu stellen, als „feindliches Narrativ“. „Das ist nicht die Meinung westlicher Partner oder von irgendjemandem in der Ukraine, das gehört zum Programm der Russischen Föderation“, betonte er vor Journalisten. Doch damit war die Diskussion nicht beendet.

Sind Wahlen unter Kriegsrecht möglich?

Die meisten ukrainischen Juristen erklärten, es sei ganz klar, dass Selenskyj seine Macht so lange behalte, bis ein neuer Präsident gewählt sei. „Dies steht ganz klar in der Verfassung der Ukraine: Nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren, ab dem Zeitpunkt der Amtseinführung, enden die Befugnisse des Präsidenten nicht automatisch. Sie enden erst mit der Amtseinführung des neugewählten Präsidenten, also erst nach Wahlen“, erläutert Andrij Mahera, Experte für Verfassungsrecht vom ukrainischen Centre of Policy and Legal Reform (CPLR), im Gespräch mit der DW. 

Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht während eines Besuch an der Front in einem Flur eines Gebäude mit Soldaten im Donbass, 14. August 2023
Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht während eines Besuchs an der Front mit Soldaten im DonbassBild: Ukrainian Presidential Press Service/REUTERS

Hinzu kommt: Sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen sind derzeit in der Ukraine verboten – jedoch auf unterschiedlicher Grundlage. Die Verfassung verbietet die Parlamentswahlen, das Kriegsrecht verbietet jedoch alle Wahlen. 

Forderung nach freiwilligem Rücktritt 

Wahlen unter Kriegsrecht sind nicht nur verboten, um die Wähler vor Gefahren zu schützen. „Es sind auch bestimmte verfassungsmäßige Rechte und Freiheiten eingeschränkt: zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Bewegungsfreiheit. Deshalb ist es unmöglich, den Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts und der freien Wahlen zu gewährleisten“, erklärt Andrij Mahera. Ähnlich äußerten sich im März das „Institut für Rechtsetzung und wissenschaftliche und rechtliche Expertise der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine“ sowie die Zentrale Wahlkommission des Landes.

An der Debatte beteiligen sich nicht nur aktive Juristen, sondern auch Veteranen der ukrainischen Politik. Wie beispielsweise Hryhorij Omeltschenko, der Mitte der 1990er Jahre als Parlamentarier der Kommission zur Ausarbeitung der Verfassung angehörte. Er betont, es sei kein Versäumnis, dass es keine direkte Regelung zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten gebe. Dies sei sogar eine bewusste Absicherung. In einem offenen Brief an Selenskyj, der im März von der Zeitung „Ukrajina Moloda“ veröffentlicht wurde, fordert er den Präsidenten dennoch auf, „die Staatsmacht nicht zu usurpieren“, also nicht an sich zu reißen und im Mai 2024 freiwillig zurückzutreten.

Selenskyj genießt weiter große Unterstützung

Doch die Legitimität von Wolodymyr Selenskyj beruht nach Ansicht von Beobachtern nicht nur auf Gesetzen, sondern auch auf der Unterstützung der ukrainischen Bürger. Trotz eines gewissen Rückgangs ist sie nach wie vor recht hoch. Laut einer im Januar durchgeführten Umfrage des ukrainischen Rasumkow-Forschungszentrums vertrauen 69 Prozent der Ukrainer dem Staatsoberhaupt, weniger als ein Viertel vertraut ihm nicht.

Eine weitere Umfrage, die Anfang Februar das Kiewer Internationale Institut für Soziologie (KIIS) vorlegte, zeigt, dass 69 Prozent der Befragten der Meinung ist, dass Selenskyj bis zum Ende des Kriegsrechts Präsident bleiben sollte. Nur 15 Prozent sind für Wahlen unter den jetzigen Bedingungen, und weitere zehn Prozent sind dafür, dass der Präsident die Machtbefugnisse an den Parlamentsvorsitzenden Ruslan Stefantschuk übergibt.

Ruslan Stefantschuk, seit Oktober 2021 Vorsitzender des ukrainischen Parlaments, sitzt an seinem Platz im Parlament und spricht in Mikrofone. Im Hintergrund ist eine Frau zu sehen.
Ruslan Stefantschuk ist seit Oktober 2021 Vorsitzender des ukrainischen ParlamentsBild: Ukrainian Presidential Press Off/Zumapress/picture alliance

Anton Hruschezkyj, Geschäftsführer des KIIS, warnt jedoch vor den letzten beiden Szenarien, da sie eine noch größere Gefahr für die Legitimität der Regierung und eine Destabilisierung der Lage in der Ukraine bedeuten würden. „Millionen Menschen sind im Ausland, Millionen sind unter Besatzung, Hunderttausende dienen in der Armee. Wenn sich Bürger nicht als Wähler oder Kandidaten an den Wahlen beteiligen können, dann wird das die Legitimität der Wahlergebnisse untergraben“, stellt er fest.

Wer kann das Verfassungsgericht anrufen?

Die meisten von der DW befragten Juristen meinen, das Verfassungsgericht sollte die Debatte über die Befugnisse des Präsidenten und mögliche Wahlen beenden. „Nur das Verfassungsgericht darf die Verfassung auslegen und prüfen, ob andere Gesetze mit ihr im Einklang stehen“, unterstreicht Andrij Mahera.

Aber die Richter des Verfassungsgerichtshofs können solch wichtige Fragen nicht aus eigener Initiative heraus prüfen. Auch kann nicht jeder eine Prüfung in die Wege leiten. Das Verfassungsgericht anrufen können in erster Linie der Präsident sowie die Regierung, der Oberste Gerichtshof, eine Gruppe von 45 Parlamentsabgeordneten oder der Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments. Und das hat keiner von ihnen bisher getan.

Ende Februar berichtete die Zeitung „Dserkalo Tyschnja“ unter Berufung auf eigene Quellen, Selenskyjs Büro arbeite an einem Ersuchen ans Verfassungsgericht, wage es jedoch nicht, es allein einzureichen. Dies sollten angeblich 45 Abgeordnete der Fraktion der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ tun. Doch seitens der Fraktion heißt es, niemand zweifele an der Legitimität des Präsidenten. Auch die Opposition zeigt sich überraschend einmütig. Vertreter verschiedener politischer Kräfte erklärten, sie hätten nicht vor, sich an das Verfassungsgericht zu wenden, und erinnerten an die interfraktionelle Vereinbarung, bis zum Ende des Kriegsrechts keine Wahlen abzuhalten.