Wie Putins Krieg Russlands Geschäftsmodell zerstört hat
Beginnen wir mit einem Blick zurück. Das Jahr 2022 fing für die russischen Staatsunternehmen Gazprom und Rosneft, die größten Einzahler in den Staatshaushalt Russlands, sehr vielversprechend an, vor allem in Deutschland, dem größten Markt Europas.
Die neue Bundesregierung hatte den Bau zahlreicher neuer Gaskraftwerke verkündet, die dabei helfen sollten, den Strombedarf des Landes angesichts des beschlossenen Atom- und des vorgezogenen Kohleausstiegs zu decken. Der Gazprom-Konzern stand somit vor einer enormen Ausweitung seiner Lieferungen nach Deutschland, seinem ohnehin weltweit größten Absatzmarkt, der Jahr für Jahr ein Viertel(!) aller russischen Pipelinegasexporte abnahm. Zudem hatte die gerade fertig gestellte Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 immer noch Chancen auf eine Zertifizierung in Deutschland, denn auch der neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nannte die in der EU hochumstrittene Pipeline „ein privatwirtschaftliches Vorhaben“.
Rosneft wiederum stand kurz vor einer Erhöhung seiner Anteile von 54 auf fast 92 Prozent an der PCK-Raffinerie in Schwedt. Dieses Unternehmen verarbeitet seit Jahrzehnten ausschließlich russisches Rohöl, das über die Druschba-Pipeline kam. Die Raffinerie beliefert mit Erdölprodukten die Hauptstadt Berlin, große Teile Ostdeutschlands und auch den schnell expandierenden neuen Hauptstadt-Flughafen BER. Es stand nur noch die endgültige Zustimmung der Bundesregierung aus, aber da waren keine Einwände zu erwarten.
Gazprom und Rosneft in Deutschland vor einem Scherbenhaufen
Nun endet das Jahr 2022 damit, dass Gazprom seine Lieferungen nach Deutschland gänzlich einstellte, die Bundesregierung deren deutsches Tochterunternehmen Gazprom Germania samt seinen großen Erdgasspeichern verstaatlicht hat und das Projekt Nord Stream 2 endgültig begraben wurde. Bereits zwei deutsche Flüssiggas-Terminals haben den Betrieb aufgenommen, nächsten Winter werden es mindestens sechs sein, um nie mehr von russischen Pipelines abhängig zu sein. Kanzler Olaf Scholz betont nun immer wieder, dass Russland kein zuverlässiger Energielieferant mehr sei.
Der Rosneft-Konzern wiederum hat die Kontrolle über die Raffinerie in Schwedt verloren, die unter staatliche Treuhandverwaltung gestellt wurde, eine Enteignung dürfte der absehbare nächste Schritt sein. Zudem will die PCK zum 31. Dezember 2022 im Rahmen des EU-Ölembargos die Verarbeitung russischen Erdöls beenden und in Zukunft auf andere Lieferanten setzen. Große Hoffnungen verbindet man mit Kasachstan.
Somit stehen Gazprom und Rosneft in Deutschland nach nur einem Jahr vor einem Scherbenhaufen. Genauer gesagt: nach nur zehn Monaten. Dieser Verlust des lukrativen deutschen Marktes, den gleich zwei russische Schlüsselunternehmen erleiden mussten, illustriert sehr anschaulich jenen gewaltigen Schaden, den Wladimir Putin der russischen Wirtschaft durch seinen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zugefügt hat. Es geht hier nicht nur um das Scheitern einzelner Projekte. Dieser Krieg zerstörte das Geschäftsmodell des heutigen Russland.
Russlands Geschäftsmodell war auf die EU ausgerichtet
Dieses Geschäftsmodell bestand darin, dass die wichtigsten russischen Exportgüter – Rohöl, Mineralölprodukte, Erdgas, Steinkohle, Metalle – hauptsächlich nach Europa, speziell in die Europäische Union, verkauft wurden. Für die erwirtschafteten Devisen erwarb man dort Maschinen und Ausrüstungen für die Modernisierung der russischen Wirtschaft und Konsumgüter für die Bevölkerung Russlands.
Die Fokussierung auf die EU als den größten Exportmarkt und den wichtigsten Lieferanten hochwertiger Importwaren beruhte nicht nur auf der geographischen Nähe. Neben der bequemen Logistik spielte auch die historische und kulturelle Verbundenheit eine entscheidende Rolle: Spätestens seit Anfang des 18. Jahrhunderts, seit Zar Peter I., verstand sich Russland als fester Bestandteil Europas und sah in den europäischen Ländern seine präferierten Handelspartner.
Im modernen Russland waren fast alle exportorientierten russischen Gaspipelines, die wesentlichen Ölpipelines, Eisenbahnlinien, Autobahnen, ein Großteil der Flugverbindungen gen Westen, nach Europa ausgerichtet. Bei der Modernisierung der Öl-, Kohle und Containerterminals in den Häfen an der Ostsee, am Schwarzen Meer und in Murmansk hatte man in erster Linie den Handel mit Europa im Blick.
Ein wesentlicher Teil des Geschäftsmodells bestand ferner darin, dass die Länder Europas zu den größten ausländischen Investoren in die russische Wirtschaft wurden. Sie brachten Kapital, Technologien, Know-how in die Öl- und Gasindustrie, in die Stromerzeugung, in den Automobilbau, in die Lebensmittelindustrie, in den Einzelhandel, um nur einige Branchen zu nennen. Viele Investitionen kamen auch von amerikanischen Firmen, aber als Absatzmarkt waren die USA für Russland nicht annähernd so wichtig wie Europa.
Weitgehender Verlust des EU-Marktes für Öl, Gas und Kohle
Doch nun ist dies alles Geschichte. Durch seinen Krieg mitten in Europa hat Putin diesem gut funktionierenden Geschäftsmodell, das er persönlich mit aufgebaut hat, ein abruptes Ende bereitet. Zahlreiche europäische Firmen haben Russland gänzlich verlassen, andere stoppten zumindest ihre Investitionen. Sie taten das wegen der EU- und US-Sanktionen, aus Imagegründen, wegen der deutlich schlechter gewordenen Geschäftsbedingungen in Russland – oder einfach, weil dieser Krieg sie anwidert.
Doch der schwerwiegendste Verlust für die russische Wirtschaft besteht darin, dass ihr im Laufe des Jahres 2022 der größte Absatzmarkt für ihre wichtigsten Exportartikel abhandengekommen ist. Den schmerzlichsten Schlag versetzte dabei das EU-Embargo auf Öllieferungen aus Russland auf dem Seeweg. Diese Maßnahme konnte ihre volle Wirkung noch gar nicht entfalten, denn sie ist erst am 5. Dezember in Kraft getreten, da die europäischen Unternehmen Zeit brauchten, um sich auf andere Lieferanten und Transportwege umzustellen.
Relativ schnell allerdings geriet der Rubelkurs ins Straucheln, weil in Moskau sich die Angst vor stark fallenden Deviseneinnahmen breit machte. Am 5. Februar 2023 kommt dann noch das Embargo auf russische Erzeugnisse aus Erdöl dazu – ein nicht weniger schwerer Schlag. Zudem hat die EU die russische Kohleindustrie seit dem 10. August vom europäischen Markt abgeschnitten, der ihr noch vor kurzem rund die Hälfte ihrer Exporte abkaufte.
Den weitestgehenden Verlust des europäischen Gasmarktes haben dem Staatskonzern Gazprom dagegen keine EU-Sanktionen, sondern der Kreml eingebrockt. Zuerst, im Frühjahr, ließ er jenen Ländern und Firmen den Gashahn zudrehen, die sich weigerten, der plötzlichen russischen Forderung nach „Bezahlung in Rubel“ nachzugeben. Dann, im Sommer, wurden die Lieferungen durch die Nord Stream 1-Leitung nach Deutschland und in seine Nachbarländer stark gedrosselt, wofür als Grund angebliche Probleme mit Siemens-Turbinen herhalten mussten.
Ende August ließ Moskau den Gasfluss dann gänzlich stoppen in der Hoffnung, Deutschland und die EU mit der Angst vor einem kalten Winter ohne genügend Energie und horrenden Preisen zu erpressen und ihnen weniger Unterstützung für die Ukraine abzuringen. Für die Unmengen des seit Sommer nicht gelieferten Gases wollen bereits zwei deutsche Unternehmen Gazprom wegen Vertragsverletzung auf Schadenersatz in Milliardenhöhe verklagen, und solange Russland nicht zahlt, wird dies eine weitere Hürde (neben der politischen) für die Rückkehr russischen Pipelinegases nach Deutschland selbst in geringen Mengen bleiben.
Auf die mysteriöse Zerstörung der Nord Stream (und teilweise der Nord Stream 2) wird sich Gazprom dabei nicht berufen können: Die Explosionen ereigneten sich am 26. September, fast vier Wochen nach dem kompletten Stopp der Lieferungen und Monate nach Beginn ihrer willkürlichen Kürzung.
Russland fehlen Zeit, Geld und Fachkräfte
Der weitestgehende Wegfall des deutschen und europäischen Absatzmarktes wird die erfolgsverwöhnte russische Gasindustrie in eine besonders tiefe Krise stürzen. Denn Russland kann den Export von Erdöl und Kohle in gewissen Mengen nach Asien umleiten, obwohl es beispielsweise viel wirtschaftlicher wäre, die Tanker aus den russischen Ostseehäfen auch weiterhin nach Rotterdam und nicht etwa ins ferne Indien zu schicken. Aber die Gaspipelines, die aus Westsibirien seit 50 Jahren ausschließlich in westliche Richtung verlegt wurden, können nicht einfach Richtung Osten umgebaut werden.
Der Kreml verkündet zwar, er würde neue Gaspipelines gen Osten verlegen, aber dafür braucht Russland sehr viel von dem, was es gegenwärtig nicht hat und in ausreichendem Maße wohl auch nicht mehr haben wird: Zeit, Geld und Fachkräfte. Denn der Verlust des europäischen Absatzmarktes wird sich jetzt von Monat zu Monat immer bemerkbarer machen, die eigenen Finanzreserven werden dagegen weiter im Krieg verbrennen, vom internationalen Kapitalmarkt bleibt man abgeschnitten, und das Land hat bereits Hunderttausende an der Front gefallene, verkrüppelte oder ins Ausland geflohene arbeitsfähige Männer verloren.
Eine halbwegs funktionierende Alternative zu dem nun zerstörten europaorientierten Geschäftsmodell Russlands wird der Kreml also nicht so schnell aufbauen können. 2023 werden das immer mehr Russen immer stärker und immer öfter zu spüren bekommen.